Ambitioniertes Reich der Mitte

China, die aufstrebende Supermacht, ist momentan in aller Munde. Kaum ein Tag vergeht, an dem keine Schlagzeilen über das Riesenreich in den Zeitungen zu lesen sind. Meist geht es um Übernahmen von Konzernen durch chinesische Unternehmen, um militärische Übungen, um innenpolitische Neuerungen. Dabei scheint China stets ambitioniertere Ziele zu haben und seine Macht ausbauen zu wollen. Doch war das Reich der Mitte schon immer so ehrgeizig? Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass dem nicht so ist.

China, 1838: Soeben wurde General- gouverneur Lin Zexu vom chinesischen Kaiser Daoguang nach Kanton entsandt. Dort, im kantonesischen Hafen, der Ausgangspunkt ist für den Handel mit Allerwelt, soll der Beamte dafür sorgen, dass die enorme Überflutung Chinas durch Opium ein Ende findet. Denn Opium, ein Rauschgift, das aus Schlafmohn gewonnen und rauchend konsumiert wird, wird vom britischen Empire tonnenweise aus Indien nach China geschmuggelt. Dort wird der Opiumkonsum seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts mehr und mehr zum Massenphänomen. Über 10 Millionen Chinesen konsumieren die «Schwarze Erde», Tausende sterben – und das, obwohl der Import und Verkauf von Opium schon seit Jahrzehnten verboten ist.

Angefangen hat die Misere schon gut vierzig Jahre bevor Lin Zexu nach Kanton geschickt wurde. 1793 haben die Briten das erste Mal versucht, Handelsbeziehungen zu China aufzubauen. Damals erhielt König Georg III. vom chinesischen Kaiser per Post jedoch eine deutliche Absage: «Wie Euer Gesandter mit eigenen Augen sehen kann, besitzen wir alles. Ich lege keinen Wert auf Gegenstände, die fremdländisch oder geschickt erfunden sind, und ich habe keine Verwendung für die Produkte Eures Landes.»

Zur Zeit jenes Briefwechsels, Ende des 18. Jahrhunderts, hat China eine Einstellung und ein Selbstbewusstsein, das mit dem heutigen nicht mehr viel zu tun hat. Vertiefte Beziehungen und Handel mit den Grossmächten seiner Zeit liegen dem Riesen fern. Über Jahrhunderte hat China seinen Wohlstand vergrössert, sein Staatsgebiet erweitert. Schon seit der Einigung Chinas durch den ersten Kaiser des Reichs, Qin Shi Huangdi, haben zahlreiche Kaiserdynastien zum Aufbau Chinas beigetragen: Die Han- Dynastie, welche auf die Qin folgte, legte mit der Einführung des Konfuzianismus als Staatsideologie den Grundstein für das Rechts- und Beamtensystem Chinas. Der Fokus auf die drei zentralen Pflichten des Konfuzius – Loyalität, Verehrung der Eltern und Wahrung von Anstand und Sitte – sowie die Wertschätzung von Bildung und Disziplin hat China für Jahrhunderte geprägt. Unter den Kaisern der nachfolgenden Dynastien entwickelt China die Handelsroute, die heute als «Seidenstrasse» bekannt ist und die chinesische Hafenstadt Xi’an mit dem Mittelmeer verbindet. Diese fördert den regen wirtschaftlichen Austausch, den die Chinesen mit den westlichen Mächten aufnehmen, und begünstigt die Entwicklung von Wissenschaft und Kultur. Mit der Zeit entstehen Grossstädte wie Nanjing und Peking, die bis heute wichtig sind. Chinesische Wissenschaftler erfinden das Papier, das Schiesspulver, den Kompass und Buchdruckmaschinen – Jahrhunderte vor den Europäern.

«China ist selbstbewusst, ambitioniert, entschlossen, eine Weltmacht zu werden.»

All diese Erfindungen und Errungenschaften haben in China zu einer Selbstzufriedenheit geführt, die zu jener Zeit ihresgleichen sucht: Die europäischen Seemächte sind zu jener Zeit eifrig daran, immer mehr Gebiete in Übersee einzunehmen. Auch China vergrössert sein Territorium – hat aber keine Ambitionen, Kolonien zu errichten. Das Reich der Mitte, das schon mit dieser Bezeichnung für das eigene Land sein Selbstbewusstsein demonstriert, zeigt keinerlei Antrieb, seine Einflusssphäre den Europäern gleich auszuweiten. Im Gegenteil: Zudem wollen die Chinesen, zufrieden mit dem eigenen Wohlstand, keine Handelsbeziehungen zum Britischen Empire aufbauen. Dem Empire widerstrebt diese Weigerung jedoch, da dieses mit einem Zugang zum chinesischen Markt ihren Wohlstand noch einmal beträchtlich erhöhen könnte. Deshalb entwickelt es bald einen Plan, der mit dem ausufernden Import von Opium beginnen sollte und in einen Konflikt münden wird, der den Anfang einer entscheidenden Zeit markieren sollte: Das «Jahrhundert der Demütigungen», das in die Geschichte eingehen und das Riesenreich in die Knie zwingen wird.

Doch noch herrscht kein Krieg. Noch ist Lin Zexu mit seinem Auftrag, das Opiumverbot durchzusetzen, beschäftigt. Schon rasch nach seiner Ankunft in Kanton beginnt er, konsequent durchzugreifen: Lin lässt 16 Tonnen Opium und 43 741 Opiumpfeifen beschlagnahmen und vernichten, 1600 Opiumhändler und -konsumenten verhaften und Teile des Ausländerviertels abriegeln. Doch die Beschlagnahmungen haben Folgen: Denn die Opiumhändler liessen sich kurz vor der Konfiszierung Garantiescheine Grossbritanniens ausstellen – und machten ihre Opiumbestände so faktisch zum Besitz der englischen Krone. Dadurch wird die Vernichtung des Opiums nicht nur zu einem Affront gegen einige private Kaufmänner, sondern zu einem direkten Angriff auf die britische Krone.

Bald reagiert Grossbritannien auch dementsprechend: Im November 1838 landen zwei britische Kriegsschiffe vor Kanton. Der Erste Opiumkrieg beginnt – ein Krieg, den China trotz grosser Überzahl verliert, da seine Marine mit ihren Dschunken nicht gegen die britischen Schaufelraddampfer ankommt und die veralteten Gewehre, Speere und Bögen der Chinesen von den Briten einfach weggefegt werden.

Pudong Skyline

Denn China, das technisch einmal so weit entwickelt war, hat es versäumt, Waffen einzukaufen und seine opiumsüchtigen Soldaten richtig auszubilden. Es misslingt dem Kaiserreich, Knotenpunkte wie den Fluss Yangzi und die Städte Kanton sowie Shanghai gegen die Kolonialmacht zu verteidigen. Der Vertrag, der auf die Niederlage folgt, ist ebenso demütigend wie die Niederlage selbst: Der Kaiser muss den Briten die Erlaubnis zugestehen, mehrere chinesische Häfen anzulaufen – Hongkong wird sogar Kronkolonie des Empire, und wird es bis 1997 bleiben. Doch dieser erste der sogenannten «Ungleichen Verträge» reicht den westlichen Kolonialmächten noch lange nicht. Nachdem alle Welt realisiert hat, dass China nicht mehr so stark und widerstandsfähig ist wie einst, melden auch Frankreich, die USA und schliesslich Deutschland Interesse an Landeberechtigungen für chinesische Häfen sowie tiefere Steuern an. Peking weiss, dass das Reich diesen Mächten nicht mehr standhalten kann und versucht, jegliche Konfrontation zu vermeiden. Nach jeweils kurzen Kriegen, welche die Westmächte mit Bagatellvorfällen begründen, muss China die Demütigung weiterer «Ungleicher Verträge» auf sich nehmen. Die Westmächte bauen Stützpunkte, errichten Kolonien und erstreiten sich die Legalisierung des Opiumhandels. In vielen Städten entstehen Ausländerviertel, in denen die Besatzer sogar nach ihrem heimatlichen Recht urteilen dürfen.

Der zunehmende Einfluss der Kolonialisten stört nicht nur den chinesischen Kaiser, der immer mehr seine Macht einbüsst, sondern auch die chinesische Bevölkerung: Viele leiden an der Diskriminierung durch die Besatzer sowie unter Hunger und Armut. Immer wieder flammen Unruhen auf; Revolutionäre fordern gar den Sturz der Kaiserdynastie – sie werden ihr Ziel erreichen. Konflikte zwischen Konservativen und Liberalen sowie zahlreiche blutige Aufstände zwingen schliesslich Kaiser Puyi 1911 seine Krone abzugeben. Auf ihn folgt eine republikanische Interimsregierung unter der Leitung von Sun Yat-Sen, welcher die chinesische Republik ausruft. Unter anderem fordert er auch das Recht, Referenden ergreifen und Initiativen lancieren zu können. Doch die Republik China ist nicht von Dauer. Schon im Laufe der Zwanzigerjahre wird Sun Yat- Sen nach Taiwan vertrieben, wo seine Partei, die Guomindang, aufgrund späterer Entwicklungen grossen Einfluss gewinnen wird.

Während der Westen die Goldenen Zwanziger erlebt, versinkt China zusehends im Bürgerkrieg. Dieser endet erst zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als ein neuer «Starker Mann» sich gegen die Nationalistenpartei Guomindang, die sich schliesslich definitiv nach Taiwan absetzt, durchzusetzen vermag: Mao Zedong. Der sagenumwobene Kommunist, im Westen längst als der grösste Massenmörder seiner Zeit geächtet, wird in China noch immer verehrt: «Mao hat 30% falsch gemacht und 70% richtig», heisst es noch heute offiziell von chinesischer Seite.

Mao ist schon zu Beginn seiner Karriere strikt, idealistisch, gnadenlos – und ambitioniert. Mithilfe von «Massenkampagnen» will er China zuerst von «Klassenfeinden» wie Akademikern und reicheren Bauern säubern, und dann mit dem berüchtigten «Grossen Sprung nach vorn» industrialisieren. 1958 sagt er entschieden: «In 15 Jahren werden wir den

Westen nicht nur eingeholt, wir werden den Westen überholt haben». Und das, obwohl Chinas Entwicklung noch immer weit hinter jener der industriellen Mächte zurückliegt. Mao will diesen Unterschied nun mit im Eiltempo gebauten Dämmen, Fabriken und Grossfarmen verkleinern.

Das Resultat ist eine Katastrophe. Dem «Grossen Sprung nach vorne» fallen 45 Millionen Menschen zum Opfer – gestorben an den Folgen von Hunger, Zwangsarbeit und Durst. Zahlreiche mehr werden politisch verfolgt, in Umerziehungslager geschickt und bis zum Tode gefoltert. Mao ist ambitioniert und grausam. Sein Wüten hat erst kurz vor seinem Tod 1978 ein Ende. Bis dahin hat Mao im Zuge all seiner Kampagnen 78 Millionen Menschen für den Traum des Kommunismus geopfert. Reformambitionen kommunistischer Mitstreiter, Widerstand von Parteikollegen, alles scheitert an ihm, dem grausamen Ideologen.

Erst nach seinem Tod 1978 führen ehemalige Mitstreiter dringend nötige Reformen durch: China öffnet einen Teil seiner Märkte und erlaubt Bürgern, im Ausland zu studieren. Chinas steiler Aufwärtskurs hat begonnen. Seit 1980 ist das chinesische Bruttoinlandprodukt um mehr als das Achtfache gestiegen.

China investiert heute Milliarden in Infrastrukturprojekte, unter anderem in die «Neue Seidenstrasse», welche eine Handelsroute von China bis nach Europa bilden soll. Gross sind auch die Investitionen in Forschung und Entwicklung, die China tätigt: Der Aufkauf des Agrarkonzerns «Syngenta», der in Basel seinen Sitz hat, ist nur ein Beispiel dafür.

Dieser aggressive Expansionskurs zeigt, dass sich Chinas Selbstverständnis in den letzten zweihundert Jahren drastisch gewandelt hat. Weit weg ist das Kaiserreich, das Handelsangebote ausländischer Supermächte ausschlug, weil es überzeugt war, keinen grösseren Reichtum als den eigenen zu benötigen. Weit weg ist die Überzeugung, auch ohne internationale Zusammenarbeit Fortschritt erreichen zu können. Die verlorenen Opiumkriege, die darauffolgenden «Ungleichen Verträge» sowie die gescheiterte republikanische Revolution haben zu einem drastischen Wandel der chinesischen Selbstwahrnehmung geführt. China ist nicht mehr selbstbewusst und gleichzeitig genügsam. Es ist selbstbewusst, ambitioniert, entschlossen, eine Weltmacht zu werden. Die Auswirkungen dieser Entschlossenheit sind noch nicht klar. Klar ist aber, dass sie dazu führen wird, dass sich die geopolitische Lage nachhaltig verändern wird. Ob zu Gunsten Chinas oder nicht – ändern wird sie sich auf jeden Fall.

Chinesische Mauer, Jinshanling

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