Angel has fallen

 

«Aktienkurs von Unterwäschemarke Victoria’s Secret auf Sinkflug». Die Schlagzeile lässt mich zwei Mal hingucken. Victoria’s Secret hat Probleme? Die unangefochtene Königin der Unterwäscheproduzenten, die das Schönheitsideal schlechthin verkörpert, auf Sinkflug?

«Aktienkurs von Unterwäschemarke Victoria’s Secret auf Sinkflug». Die Schlagzeile lässt mich zwei Mal hingucken. Victoria’s Secret hat Probleme? Die unangefochtene Königin der Unterwäscheproduzenten, die das Schönheitsideal schlechthin verkörpert, auf Sinkflug?

Ja, tatsächlich. Die berühmte Show mit der Spitze und den Push-Ups und den (zu) dünnen, grossen, scheinbar perfekten Models ist Geschichte. Nicht einmal als Film wird die Show mit den Engel-Modeln mit Grösse 32 dieses Jahr mehr produziert. Der Unterwäschekonzern musste zahlreiche Filialen schliessen, hunderte Mitarbeiter entlassen. Beim Engelkonzern ist nicht alles so rosa wie die prinzessinnenhaften Spitzen-Höschen.

Ja, vielleicht sollte diese Nachricht keine Hochgefühle in mir auslösen. Tut sie aber trotzdem.

Denn Victoria’s Secret produziert nicht einfach nur Unterwäsche für alle Frauen, die sie sich leisten können und sich freiwillig in mehr Push-Up reinzwängen wollen als jemals nötig, Victoria’s Secret verkörpert auch ein Frauenbild. Oder vielleicht eher: Göttinnenbild.

Denn mit realen, echten, natürlichen Frauen hat das Körperbild, das Victoria’s Secret vertritt, ausserordentlich wenig zu tun.

Victoria’s Secret, das sind grosse Brüste, flacher Bauch, dünne Beine, lange, gewellte, meist blonde Haare, schmales Gesicht. Ein Bild, das wahrscheinlich mit Lust oder gar Schönheit assoziiert werden soll.

Doch Schönheit ist das letzte, das den meisten (durchschnittlichen) Frauen in den Sinn kommt, wenn sie ihre Gefühle beschreiben müssten, welche die Victoria’s Secret-Engel in ihnen auslösen. Klar, dazu gibt es keine Studien. Aber die Mehrheit der Frauen würde nicht widersprechen, wenn ich sage, dass diese Gefühle nichts mit Schönheit zu tun haben, nicht schön sind. Sie sind eher hässlich, mühsam, bedrückend. Es sind Gefühle wie Selbstzweifel (Bin ich auch/trotzdem schön?), gefolgt von Selbstkritik (Ich sollte mal wieder mehr für meinen Körper tun!) und schliesslich Resignation (Ich werde sowieso niemals so aussehen…). Und dann – und darin fusst zumindest ein Teil des bisherigen Erfolgs von Victoria’s Secret – auf die Unterwäsche projizierte Hoffnung (Aber vielleicht, wenn ich diesen BH kaufe, sehe ich ein bisschen mehr so aus. Vielleicht, vielleicht macht mich dieser BH genug Gisele-Bündchen-ähnlich, um auch so selbstbewusst zu sein, wie die Engel auf dem Catwalk).

Und genau wegen solcher Gedanken ist der langsame, aber stetige Niedergang von Victoria’s Secret ein Sieg für selbstbewusstes Frau-Sein und die Akzeptanz des eigenen Körpers.

Denn während Victoria’s Secret langsam Marktanteile verliert, gewinnen Marken wie die American-Express-Linie «AerieReal» eben stetig dazu. Der Unterschied? Scrollt man durch die Social-Media-Auftritte von Aerie oder ähnlichen Marken, findet man früher oder später ein Bild, das dem eigenen Körper (ja, dem echten, unperfekten) ziemlich entspricht. Klar, genaue Ebenbilder fehlen – aber das ist auch nicht nötig. Denn diese Marken präsentieren trotzdem alles Realistische: Ein bisschen zu dicke Bäuche, kleine oder zu grosse Brüste, Cellulite, weibliche Oberschenkel, Sommersprossen. Es ist alles da. Und die Models (die meistens gar keine sind, zumindest keine professionellen) wirken glücklich. Auch selbstbewusst, wie die Engel, aber anders. Sie wirken, als wären sie zufrieden mit sich selbst – auch ohne zusammengekniffene Augen und anzüglichen Blick. Dass diese Marken inzwischen auf dem Vormarsch sind, gibt Hoffnung. Es zeigt, dass Frauen aufhören, ihre vermeintlichen Makel mit Push-Up-BHs kaschieren zu wollen. Stattdessen entscheiden sie viel eher, einfach einen BH zu kaufen, der ihnen tatsächlich passt – und der das, was bereits schön ist, zur Geltung bringt, anstatt unrealistische Illusionen zu kreieren,

Vor Kurzem habe ich in meinem Insta-Feed einen Beitrag mit Werbung für Unterwäsche an einem Model mit flachem Bauch, perfekt grossen Brüsten, makelloser Haut und perfekten Beinen gesehen. Und das erste Mal seit Jahren dachte ich irritiert: «Was hat das jetzt mit mir zu tun?» und habe den Kanal deabonniert. Die Nachricht, dass etablierte Marken wie Victoria’s Secret momentan zu kämpfen haben, weil vielen Frauen inzwischen Ähnliches durch den Kopf geht, stimmt mich optimistisch. Denn sie zeigt: Das alte Schönheitsideal wandelt sich. Langsam, aber es wandelt sich. Vielleicht müssen wir irgendwann nicht mehr aussehen wie Gisele Bündchen, müssen nicht mehr Kleidergrösse 34 haben, um das Gefühl zu haben, ins Schönheitsideal zu passen. Vielleicht, vielleicht, schaffen wir es irgendwann, eine Diversität von verschiedenen Körpern als schön zu betrachten und uns selbst so zu akzeptieren, wie wir sind – mit allen Makeln und auch ohne Push-Up-BH. Die Zeichen dafür standen nie zuvor besser.

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