Fotos: Julia und Lisa Hermes

Auf und davon – eine Reise um die Welt

Vor gut dreieinhalb Jahren entschieden sich Lisa und Julia Hermes loszuziehen. Von Deutschland aus ging es per Anhalter Richtung Süden, ins Unbekannte auf ein Abenteuer. Es war der Beginn einer Reise, die sie per Anhalter mit dem Segelboot über den Atlantik geführt hat, quer durch Südamerika, mit dem Kanu durch den Amazonas, bis zum südlichsten Zipfel in Patagonien. Um dann alles wieder hoch in den Norden Chiles, mit dem Boot durch den Darién Gap, ein schwer passierbares Gebiet, berüchtigt für seine Drogenrouten, bis nach Zentralamerika zu reisen. In unserem Gespräch ging es um ihre Ideen, Erfahrungen und Beobachtungen.

Februarabend, 17 Uhr. Der Himmel dunkelt langsam ein. Auf dem Bildschirm vor mir erscheinen Lisa und Julia. Sie sitzen vor einer senfgelben Fassade, kurzärmelig und lachend. In Mexiko ist es gerade 10 Uhr, sonnig und warm.

Die beiden Schwestern sind mit einem Ziel gestartet: ohne Flugzeug einmal um die ganze Welt, um sich gleichzeitig auf die Suche nach gelebten Utopien und alternativen, nachhaltigen Lebensformen zu machen.

Und sie fanden sie: in der Natur in Patagonien zum Beispiel, in der Gemeinschaft Aluantu, in welcher eine bunte Gruppe von Menschen aus aller Welt selbstbestimmt (er)leben und sich frei entfalten kann. Oder in Velatropa in Buenos Aires; eine Gemeinschaft, welche sich auf einer unbebauten, früher als Müllhalde genutzten Fläche einen Raum zum Experimentieren, Ausleben und Kreieren schaffte.

Mit dem neuen Wissen und den zahlreichen Beobachtungen möchten Lisa und Julia in Europa später ihre eigene Kommune gründen und aufbauen. Sie träumen von einem Ort mit weniger sozialen Zwängen, viel Freiraum und Kreativität, ein Platz zum Leben, Gestalten, mit viel Austausch. Sie erzählen mir von Workshops und Kursen, welche sie anbieten möchten, um Wissen zu vermitteln und Neues zu lernen. Und von einem Leben mit der Natur, nachhaltig und mit bewusstem Umgang.

Von den 10’000 Euro, welche die beiden in Deutschland angespart haben, konnten sie während drei Jahren zehren. Sie reisen Low Budget, der bewusste Verzicht und die langsamere Fortbewegung gehören zu ihrem Reisestil. Man erlebt die Umgebung viel intensiver und näher, lernt durch die Gespräche in den Autos und LKWs Einheimische kennen, tauscht sich aus und erhält oft noch eine Einladung.

Sie träumen von einem Ort mit weniger sozialen Zwängen, viel Freiraum und Kreativität, ein Platz zum Leben, Gestalten, mit viel Austausch.

Strecke legen Julia und Lisa vor allem per Anhalter, zu Fuss oder mit dem Fahrrad zurück. Den Atlantik  überquerten sie jedoch mit einem Segelboot. Wie funktioniert das? Lisa und Julia machten sich in Gibraltar auf die Suche nach einer Segelcrew, mit denen sie mitsegeln dürfen. Jedes Jahr, in der Zeit zwischen November und März, suchen Unzählige eine Mitfahrgelegenheit oder ein neues Crewmitglied, um von Gibraltar, zu den Kanaren und schliesslich in die Karibik zu gelangen. An den Anlegestellen haben sie die Leute angesprochen, konnten so gleich herausfinden, ob man sich gegenseitig sympathisch findet, und hatten so relativ schnell einen Platz auf einem Segelboot. Nach ungefähr drei Monaten sind sie in Tobago angekommen.

Jedes Jahr, in der Zeit zwischen November und März, suchen Unzählige eine Mitfahrgelegenheit oder ein neues Crewmitglied, um von Gibraltar, zu den Kanaren und schliesslich in die Karibik zu gelangen.

Auf dem Atlantik

Doch nicht nur unterwegs halten sie die Kosten tief. Die Nächte verbringen sie im Zelt auf Autoraststätten, in der Wildnis, im Gewächshaus oder in einem parkenden Bus. Manchmal werden sie von Fremden eingeladen – für ein Essen oder eine Übernachtung –, oder sie schlafen draussen in einer verlassenen Hütte. Es findet sich immer ein passender Ort.

Gegen den Hunger kaufen sie sich etwas auf dem Markt oder fragen in einem Restaurant nach Essensresten und Food Waste, welches im Müll gelandet wäre. Und auch im Müll suchen sie, Containern nennt sich das, und bezeichnet das Retten von Lebensmitteln, welche weggeworfen wurde, weil sie zu krumm oder zu klein sind, das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten haben oder nicht mehr frisch aussehen – schmecken tun sie trotzdem!

Utopie

Seit dreieinhalb Jahren unterwegs zu sein ist anstrengend. Mit mehrmonatigen Pausen versuchen Lisa und Julia, einen Ausgleich zu schaffen und sich zu erholen. Zusätzlich hilft ihnen ihr Tagebuch, um Erfahrungen und Erlebnisse festzuhalten und zu verarbeiten, Gedanken zu sortieren und die Wut mal so richtig rauszulassen. Eine Weltreise bleibt eine intensive Erfahrung. Man wird mit Missständen konfrontiert, mit zuvor unbekannten Problemen, mit fremden Ansichten und ungewohnten Situationen.

 

Trampen

Ist man dann plötzlich in einer brenzligen Situation, heisst es, innerlich und äusserlich Ruhe zu bewahren und dem Fahrer selbstbewusst mitzuteilen, dass man nur trampen möchte und nicht mehr – und jetzt gerne aussteigen möchte. Wenn man die Angst zeigt, gibt man dem Gegenüber eine Angriffsfläche. Mit der Zeit gewinnt man an Erfahrung und lernt, mit solchen Situationen umzugehen.

Im Allgemeinen ist es wichtig, mit einer positiven Einstellung loszuziehen. Erwartet man, dass man jetzt gleich ausgeraubt wird, passiert es auch. Man verhält sich nämlich auch dementsprechend – verängstigt, den Rucksack fest umklammert. Dadurch werden die Menschen gleich misstrauisch. Besser ist es, Augenkontakt zu halten, freundlich in der lokalen Sprache zu grüssen, zu winken und aufrecht zu laufen. Das vermittelt gleich ein viel offeneres und selbstbewussteres Bild.

Julia wurde mit ihren blonden Haaren öfters komisch angequatscht – einfach nur wegen ihren Haaren und dem ausländischen Look. Die Haare zu färben kam aber nicht in Frage – «man versteckt dadurch irgendwie auch einen Teil von sich selbst». Kleine Tricks können helfen, dich sicherer zu fühlen – beispielsweise, in dem man nachts die Kapuze hochzieht und breitbeinig läuft.

«Was macht ihr, wenn ihr (als Frau) in eine unangenehme Situation kommt?» – «Wir hatten zum Glück nur gute Erfahrungen gemacht! Klar, jeder kommt mal in eine brenzlige Situation. Die Kunst ist es, ihr wieder zu entweichen – oder sie im Vorhinein schon zu vermeiden.»

Julia und Lisa erzählen mir, dass sie beim Trampen, wenn jemand anhält, immer zuerst fragen, wo er/sie hinfährt und ihm/ihr dabei in die Augen blicken. Die Augen sagen viel über die Absicht des Fahrers. Kann die Person kein Augenkontakt halten oder beäugt gleich deinen Körper, sollte man lieber nicht einsteigen. Wirken die Augen aber offen und ehrlich, bleibt das Einsteigen oft ungefährlich. Trotzdem gilt, auf seine Intuition zu hören und den Mut zu haben nicht einzusteigen – in solchen Situationen sollte man nicht aus Höflichkeit seine Grenzen überschreiten.

Die Augen sagen viel über die Absicht des Fahrers. Kann die Person kein Augenkontakt halten oder beäugt gleich deinen Körper, sollte man lieber nicht einsteigen.

Im wilden Patagonien

Durch Corona und den globalen Lockdown waren sie gezwungen, mehrere Monate in Mexiko zu verbringen. Alle Grenzen waren dicht, keine Chance in die USA zu gelangen. Wie weiter?

Im Sommer 2020 entschieden sie sich eine Ausnahme zu machen: der Landweg in die USA war weiterhin zu, die einzige Möglichkeit war mit dem Flugzeug ins Land zu gelangen. In der Hoffnung auf Arbeit und somit etwas Geld in der Reisekasse flogen sie in die USA.

 

Abendstimmung

Als ich im Februar 2021 angerufen habe, waren sie zurück in Mexiko. Lisa hat gerade ihr erstes Kind auf die Welt gebracht. Nun legen sie eine Reisepause ein, geniessen die Zeit mit der angereisten Familie und mit Freunden. Der zukünftige Weg bleibt offen, denn auch momentan ist eine Einreise in ein Land oft nur mit dem Flugzeug möglich. Eigentlich wären sie gerne in Alaska, auf dem Weg zum asiatischen Kontinent, aber zurzeit haben sie keine Chance. Erst recht nicht in Asien, wo noch viel striktere Massnahmen gelten als in Zentralamerika. Daher heisst es: Abwarten!

Und doch möchten sie diese Reise nicht missen, die Jahre haben sie auf ganz vielen Ebenen geprägt. Wem empfehlt ihr solch ein Abenteuer? «Jedem, der Lust darauf hat! Es gibt nicht einen Typ Mensch, der für das Reisen gemacht ist. Wichtig ist es, nicht gleich aufzugeben. Es gibt immer wieder Hoch- und Tiefpunkte, eine Weltreise braucht Durchhaltewillen und Geduld – aber vor allem sollte man offen in die Welt rausgehen. Ohne Erwartungen.»

 

Mehr über Lisas und Julias Reise erfahrt ihr auf ihrem Blog outthere.eu.

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