Das Lied von Theresienstadt

Wir sind hier 40`000 Juden, es waren viel mehr an diesem Ort, und die, die wir nicht nach Polen verluden, die trugen wir in Särgen fort.»

So schrieb es J. Lindenbaum in seinem Text «Lied von Theresienstadt». Lindenbaum war ein Insasse des Konzentrationslager Theresienstadt, in welchem innerhalb von drei Jahren 33‘000 Menschen – vor allem Juden – umgebracht wurden. Lindenbaums Lied darüber ist ein Zeitzeugnis von vielen, ein Liedtext unter Hunderten, ein Schicksal unter Millionen. Das KZ Theresienstadt war eines von hunderten Lagern im ganzen Deutschen Reich und den besetzen Gebieten und somit nur ein Teil des grössten Verbrechens in der Geschichte Europas: Des Holocaust.

Der Holocaust lebt in der kollektiven Erinnerung weiter. Noch heute schockieren und berühren die Geschichten über Tod, Leid und Misshandlung. Die Schuld, die Hitler und seine Gefolgschaft auf ganz Nachkriegsdeutschland geladen haben, wiegt Abermillionen Tonnen. Doch Deutschland hat im Laufe der Jahrzehnte einen Weg gefunden, mit der Schuld umzugehen: Dieser Weg heisst „Erinnerungskultur“. Die Erinnerungskultur besteht aus Aufarbeitungsprojekte, in deren Zug tausende Zeitzeugenberichte in ganz Europa gesammelt werden. Sie umfasst aber auch Prozesse gegen inzwischen greise ehemalige SS- Soldaten, die damals an den Rampen des Lagers standen und entschieden, wer leben durfte und wer sterben musste. Auf höchster, diplomatischer Ebene gehören zur Erinnerungskultur aber vor allem Gedenktage, Besuche der Bundeskanzlerin in KZs, Mahnwachen und Lippenbekenntnisse dazu, ein Verbrechen wie den Holocaust niemals wieder zuzulassen. Dies zeigt, dass die Erinnerungskultur stark von den grossen Zahlen abhängt: Die Millionen Menschen, die ihr Leben verloren, die Tausenden, die überlebt haben. Es geht – wenn überhaupt um einzelne Personen – um die inzwischen sagenhaften Helden wie Oskar Schindler, der einigen hundert Juden das Leben gerettet hat. Nur sind diese grossen Zahlen und epischen Geschichten keine Dimensionen, die ein Mensch fassen kann. Eine Million Tote allein im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Sind Sie geschockt? Vermutlich. Emotional berührt? Vielleicht auch, aber deutlich weniger. Grosse Zahlen sind von Natur aus für Menschen nicht fassbar. Wir können uns nicht vorstellen, was das genau heisst, wenn Millionen Menschen umgebracht wurden. Wir begreifen es zwar intellektuell, verstehen es aber emotional nicht.

Eine Million Tote allein im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Sind Sie geschockt? Vermutlich. Emotional berührt? Vielleicht auch, aber deutlich weniger.

Um Schrecken in solchem Ausmass zu verstehen, brauchen wir Zeitzeugenberichte, Briefe, Zeichnungen, Lieder – Lieder wie jenes von J. Lindenbaum über das Leben im KZ Theresienstadt. Erst Zeilen wie «Früher hätt’ man das nicht machen dürfen, die Suppe holen in dem Blechgeschirr, und ohne Löffel gierig schlürfen, heut’ heisst es: Friss oder krepier!» lassen uns auf eine emotionale Weise zumindest ein bisschen verstehen, was damals passierte. Und genau dieses Verständnis ist wichtig und wird immer wichtig bleiben.

Und wenn die Jahre dann verrinnen...

Das Ende des Zweiten Weltkriegs ist dieses Jahr 79 Jahre her. Die die Anzahl Personen, die sich noch an die Gräuel des Krieges erinnern kann, wird stetig kleiner. Was für einen Einfluss der Umstand, dass sich keine lebende Generation mehr an den letzten grossen Krieg erinnern kann, auf die Politik und die Gesellschaft haben wird, wissen wir nicht. Natürlich ist es möglich, dass das Bewusstsein dafür, dass Krieg keine Lösung ist und keinen Gewinn bringt, bleibt, auch wenn die Erinnerung daran nach und nach verblasst. Möglich ist aber auch, dass die Tatsache, dass man sich unmöglich vorstellen kann, was Krieg tatsächlich für Menschen und Umwelt bedeuten, die Politik unvorsichtiger und die Gesellschaft kriegsbereiter werden lässt. Daran ändert auch eine diplomatische, politische und historische Erinnerungskultur nichts.

Was für einen Einfluss der Umstand, dass sich keine lebende Generation mehr an den letzten grossen Krieg erinnern kann, auf die Politik und die Gesellschaft haben wird, wissen wir nicht.

Schliesslich dringen von dieser meist nur Zeitungsartikel über Angela Merkel, die mit irgendeinem anderen Staatschef an einem Denkmal steht und eine – tatsächlich oder aufgesetzte – betroffene Miene zur Schau stellt, durch. Und auch in diesen Artikeln stehen jeweils nur die grossen Zahlen. Um tatsächlich eine Erinnerungskultur aufrecht zu erhalten, welche die Menschen erreicht, brauchen wir Berichte von den kleinen Schicksalen. Denn die sind es, die wir nicht vergessen dürfen. Die Abschiede von Liebenden. Die auseinandergerissenen Familien. Die gebrochenen Seelen. Die hungernden Menschen. Das sind die Dinge, die für immer, immer und immer in unsere Köpfe eingebrannt sein müssen, um zu verhindern, dass Ähnliches noch einmal passiert.

Die Abschiede von Liebenden. Die auseinandergerissenen Familien. Die gebrochenen Seelen. Die hungernden Menschen. Das sind die Dinge, die für immer, immer und immer in unsere Köpfe eingebrannt sein müssen.

Diese Erkenntnis ist nichts Neues. Auch schon J. Lindenbaum schrieb in in seinem Lied: «Und wenn die Jahre dann verrinnen, für euch von sorgenvollen Glücks, könnt ihr euch einmal dann besinnen, und denkt an jene Zeit zurück. Oh sing’, oh Bruder, Kamerad, sing das Lied, mein Lied von Theresienstadt.»

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