Illustration: Angelica Bebing

Das Sozialkredit-System in China – eine sinnvolle Sicherheitsmassnahme?

Künftig sollen 1.4 Millionen Chinesen durch ein digitales Kontrollsystem – bekannt als Sozialkredit-System – beobachtet werden. Neben Privatpersonen sollen auch Unternehmen kontrolliert werden. Die chinesische Regierung preist mit mehr Sicherheit im öffentlichen Raum und einer höheren Vertrauenswürdigkeit untereinander. Die Umsetzung der Vision soll in diesem Jahr erfolgen.

Das System funktioniert wie folgt: Daten aus dem Strafregister, den Meldedaten, den sozialen Netzwerken und unzähligen weiteren Quellen – wie Shoppingvorlieben oder Rezensionen von Kunden der eigenen Firma – fliessen zu einem persönlichen Score zusammen. Über Rot fahren, die Rechnungen verspätet zahlen oder sich kritisch über die Regierung äussern, ziehen den Score runter. Mit vernünftigem Verhalten, etwa durch das Pflegen der Eltern, durch das Fahren mit der Bahn zur Arbeit oder durch eine Blutspende, kann der Score wieder aufgebessert werden. Wie solche Aktivitäten aufgezeichnet oder erst bemerkt werden können, ist ganz einfach. In vielen chinesischen Städten hängen an jeder Ecke Videokameras mit integrierter Gesichtserkennung, die alles aufzeichnen. Jedes Gesicht oder Nummernschild am Fahrzeug kann identifiziert werden. Neue Techniken erkennen Personen schon an ihrer Gangart. Auf den Handys der Bürgerinnen und Bürgern werden Apps Pflicht, welche alle Daten auf dem Gerät durchforsten. Das Handy kann dadurch jederzeit geortet werden. Vereinfacht wird die digitale Sozialkontrolle durch die Umstände, dass viele westliche Apps und soziale Netzwerke (wie Facebook, Twitter oder Instagram) in China nicht verfügbar sind. Ersetzt werden diese durch chinesische Anbieter, wodurch die Daten koordinierter abgefangen und gesammelt werden können.

Das Sozialkredit-System ist zurzeit noch keine Wirklichkeit, jedoch existieren bereits Pilotprojekte in verschiedenen Städten. Die Bevölkerung in Roncheng, beispielsweise, startete mit 1000 Punkten. Je nach Verhalten wurden Punkte abgezogen oder dazu addiert. Die Höhe der Punktzahl entschied, in welchen Rang man eingeteilt (Rang A-D) und wie man von den Behörden behandelt wurde. Zum Beispiel bekam jemand mit einem hohen Rang vereinfachten Zugang zu Krediten, wohingegen jemandem mit tiefem Rang der Zugang zur Sozialhilfe oder zur Wohnungsmiete erschwert wurde. Neben diesen Projekten existieren schwarze Listen mit Autoren und Schriftstellern, die sich kritisch äusserten oder Personen, die ihre Steuern oder Kredite nicht pünktlich gezahlt haben. Auch ihnen wird vieles verwehrt. Sie dürfen nicht mehr mit den Schnellzügen durch China reisen oder das Flugzeug benutzen.

Nicht nur der Staat versucht sich mit Sozialkredit-Systemen, auch verschiedene Unternehmen haben ihre eigenen Scores kreiert. Sesame Credit, eine Tochtergesellschaft der chinesischen Alibaba Group (eine der grössten Online-Einkaufsplattformen der Welt), wertet die Daten von Millionen Nutzern aus. Dabei werden auch die Produkte der Kunden miteinbezogen. Wer regelmässig Windeln kauft, ist mit grosser Wahrscheinlichkeit ein Elternteil und übernimmt folglich Verantwortung. Das sei positiv zu bewerten. Wer aber Videospiele kauft, verschwendet seine freie Zeit mit fiktiven Spielen und ist somit «faul». Das gibt Abzug beim persönlichen Score. Wieder lockt die Firma mit Vorteilen. Und nicht nur das: In einer gratis App von Sesame Credit kann man abschätzen, ob der eigene Score höher ist als der von Freunden. So sollen sich die Menschen an ihre Scores gewöhnen und sie offen teilen. Ebenso auf der Dating-Plattform Baihe. Baihe arbeitet mit Sesame Credit zusammen und belohnt hohe Scores mit attraktiven Plätzen auf der Website.

Immer mehr Menschen präsentieren ihren Score stolz auf ihrem Profil, ein hoher Score macht attraktiv.

Die Menschen leben zunehmend in völliger Transparenz. Das stört nur wenige, im Gegenteil, viele Bürgerinnen und Bürger sind zufrieden mit den Massnahmen. Die Sicherheit werde verbessert, Verbrecher können die gleiche Tat nicht mehr an mehreren Orten begehen und attraktive Angebote winken als Belohnung für gutes Benehmen. Das Sozialkredit- System lockt mit gutklingenden Argumenten. Schnell werden die Überwachung und die Privatsphäre zur Nebensache.

Die Regierung besitzt mit ihrem Sozialkredit-System ein äusserst heikles Machtinstrument.

Kritische Stimmen können im Keim erstickt und unerwünschtes Verhalten bestraft werden. Der Grat zwischen Zivilschutz und Zensur ist schmal.

Noch dieses Jahr soll das Sozialkredit-System in Kraft treten. Künftig wird in China wohl ein Algorithmus darüber entscheiden, wer gut und wer böse ist.

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