Grafik: Claudio Rinaldi

Der Mensch ist Geschichte

Seit Anbeginn der Zeit plagt die Menschheit die ewige Frage der Identität. Eine Frage, die in solchem Masse individuumsabhängig ist, dass sie nie vollends und allgemeingültig beantwortet werden kann. Nun, diese Subjektivität hindert uns aber nicht an der faktischen Studie der menschlichen Natur.

Soweit die Biologie es beobachten konnte, ist der Mensch als Lebewesen, als Produkt der Evolution auf diesem Planeten, nichts mehr als eine biologische Maschine zur Selbstreproduktion, allgemein definiert als Tier. Eines, welches durch einen kosmischen Zufall ein Selbstbewusstsein erlangt hat. Nun, diese Antwort dient aber sehr wenig dazu, die Frage um die einzelne Person zu lösen. Was ist denn eine Person? Um einen objektiven Überblick beizubehalten, bleibt auch diese nun philosophische Untersuchung ziemlich nüchtern. Ein Leben, im allgemeinen Sinne, ist eine spezifische Abfolge von Ereignissen, gelebt von einem genauso spezifischen Individuum. Kein Mensch hat die absolut gleichen Erfahrungen wie ein anderer. Weiterhin hängt der Einfluss eines Erlebnisses auf eine Person davon ab, wie diese auf die Ereignisse vor ihr reagiert und wie sie diese im Nachhinein verarbeitet. Diese, von Person zu Person verschiedene Eigenschaft wird Charakter genannt. Mit diesem Verhältnis zwischen Erfahrung und Charakter können wir die Person als solche definieren: Die Summe der Erfahrungen eines Menschen multipliziert mit dessen angeborenen Veranlagungen. Mit dieser Untersuchung des menschlichen Wesens möchte ich mit der Geschichte ein Gleichnis ziehen und so zum Titel zurückkehren. Die Geschichte – die uns bekannten Informationen über die Menschheit – besteht, wie eine einzelne Person, aus der Summe ihrer Ereignisse multipliziert mit deren Veranlagungen; im Falle der Geschichte multipliziert mit der Interpretation der sie behandelnden Historiker. Diese Historiker werden durch ihr Studium der Geschichte einerseits zu den Interpreten der Menschheit, andererseits auch zu den Weisesten im Verständnis derselben. Aber nicht alle Historiker geraten in diese Wissenschaft durch ihr Interesse an der Geschichte und nicht alle erkennen sich selbst als Historiker, nicht einmal die meisten; denn jeder soziale Mensch ist Historiker, nur beschränkt auf eine ihm unmittelbar nützliche Skala. Jeder einzelne Mensch teilt bestimmte Erfahrungen mit anderen. Jede Familie hat ihre Geschichten, jede Dorfge-meinschaft ihre Dramen und Legenden und jede Nation ihre Helden und Schlachten. Alle Kulturen haben ihre gemeinsamen Bräuche und ihre ungeschriebenen Regeln, genauso wie jeder Staat ohne allgemeingültige Gesetze in Korruption oder Anarchie verfallen würde. Ohne solche gemeinsamen Erfahrungen könnten Gemeinschaften nicht entstehen und ihre Individuen nicht miteinander interagieren. Dieses kollektive Bewusstsein und allgemeine Wissen ermöglicht grobe Schlussfolgerungen auf das Verhalten einzelner Mitglieder einer Gruppe, die durch bestimmte Ereignisse definiert wird. Es schafft somit einen gemeinsamen Startpunkt für jede Interaktion zweier Personen jener Gruppe. Dies macht im Umgang mit einer Person ein intimes Wissen über die gemeinsame Gesellschaft unabdingbar.

Da das Verständnis einer Sache unbedingt für den sinnvollen Umgang mit dieser notwendig ist, muss man auch, um mit Menschen und der Menschheit umgehen zu können, diese verstehen. Wie dies durch die Geschichte erreicht werden kann, habe ich hoffentlich im Verhältnis zwischen der Geschichte, der Menschheit und dem einzelnen Menschen demonstriert. Der Mensch ist zumindest im sozialen Kontext wahrlich seine Geschichte. In einer Gesellschaft, die unter anderem die Menschenrechte als höchste Werte ansieht, führt dieser Zusammenhang zur Erhebung der Geschichte als höchste geistes-wissenschaftliche Disziplin, da sie jede einzelne Schrift, alle jemals sich zugetragenen Skandale und Tragödien und die Leben eines jeden Menschen enthält. Somit birgt sie das Verständnis der Menschheit im Allgemeinen und als Konsequenz auch das gleiche Verständnis betreffend jedes einzelnen Menschen. Dieser Umstand lässt die Wichtigkeit des persönlichen Umgangs mit Geschichte ausserordentlich hervortreten. Um die Zivilisation schlechthin zu wahren, müssen wir die vergangene Geschichte kennen. Genauso, wie wir es den künftigen Menschen nicht unnötig schwer machen dürfen, die zukünftige Geschichte von heute, die Journalistik, zu verstehen. Somit sollten wir diese so wahrheitsgetreu wie möglich gestalten und nicht jegliche journalistische Ethik hochkant aus dem Fenster werfen.

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