Illustration: Hannah Oehry

Der Wille zum Gleichersein

ein philosophischer Versuch, das System der Ungerechtigkeit aufzubrechen

„Das Leben ist nicht gerecht, und für die meisten von uns ist das gut so.“ Mit diesem Zitat hält der viktorianische Dichter Oscar Wilde seinem gebildeten und privilegierten Publikum einen Spiegel vor: Diese kleine Schicht von Dandys profitiert von den systematischen Ungerechtigkeiten wie der Sozialen Frage oder dem Imperialismus. Auch gut 100 Jahre nach Wildes Tod hat das Zitat nicht an Aktualität verloren. Heutzutage nimmt es die industrialisierten Wohlstandsgesellschaften in die Pflicht, die auf Kosten der Umwelt und von regionaler und globaler sozialer Ungleichheit profitiert. Doch gibt es ein System, in dem man Gerechtigkeit vollständig umsetzen kann? Dieser Frage soll nun nachgegangen werden.

Mit der Definition des Gerechtigkeitsbegriffs zeichnet sich bereits ein weiteres Dilemma dieser Diskussion ab, denn es gibt keine abschliessende Antwort. Fragt man spontan nach, assoziieren die meisten mit Gerechtigkeit eine Gleichbehandlung. Beim Hinterfragen dieser Aussage stellt man fest, dass die Menschen ganz unterschiedliche Voraussetzungen und Interessen haben. Ein behindertes Kind hat ganz andere Bedürfnisse als ein leistungsstarkes Gleichaltriges. Ihnen in der Schule die gleich schwierigen Aufgaben, die gleiche Aufmerksamkeit und Förderungen zukommen zu lassen, würde keinem von beiden gerecht werden. Gleichbehandlung kann also ungerecht sein.

Gerechtigkeit als Gleichbehandlung von Gleichem kommt der Sache schon näher. Doch wer legt nun fest, wer als gleich gilt und wie sollen die Beziehungen der Ungleichen untereinander aussehen? Man könnte sich darauf einigen, dass alle Ungleichen so behandelt werden, dass alle einen gleich hohen, ihren Bedürfnissen entsprechenden Lebensstandard erreichen. Aufgrund der unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen kann dieser Lebensstandard aber nie gleich sein. Demnach ist es schwierig zu entscheiden, ob diese unterschiedlichen Standards nun gleich an Würde und Wert sind – und wer soll das überhaupt festlegen?

Es gibt verschiedene Gerechtigkeitsentwürfe, die sich diesem Problem angenommen haben. Der libertarianische Entwurf nähert sich dem Dilemma von einem ökonomischen Standpunkt her an und erklärt die Etablierung eines freien Marktes, zu dem formal alle denselben Zugang haben, als gerecht. Vermeintlich können alle ihr Glück versuchen, einige reüssieren, andere nicht. Der Staat soll weder für einen Ausgleich sorgen, noch durch Vorschriften paternalistisch eingreifen, sondern lediglich den Schutz vor Kriminalität und die Bewahrung des Eigentums gewährleisten. In der Praxis führt dieses System – wie es Wilde im Vereinigten Königreich zur Zeiten der industriellen Revolution und die heutige Welt anhand der Globalisierung beobachten können – zu enormer Ungleichheit. Denn nicht alle haben die gleichen Chancen, in diesem System erfolgreich zu sein. Ein Kind, das in einem politisch instabilen Staat ohne Schulbildung und Eltern aufwächst, wird nie dieselben Möglichkeiten haben wie der genau gleich begabte Sohn einflussreicher Eltern in einem westlichen Industriestaat, der schon mit fünf Jahren zur Geigenstunde und in die Mandarinnachhilfe geschickt wird. Die Existenz von diskriminierenden Systemen wie Sexismus, Rassismus, Homophobie, Kastensysteme und Klassendenken wird im libertarianischen Entwurf nicht beachtet. Doch diese verunmöglichen einer enormen Zahl an Menschen, im libertarianischen Entwurf Erfolg zu haben.

Die Meritokratie – eine faire Leistungsgesellschaft – versucht durch Förderprogramme, Quoten und andere Massnahmen diese diskriminierenden Systeme aufzubrechen und die freie Marktwirtschaft so weit durch den Staat einzuschränken, dass der Wohlfahrtsstaat jenen ein menschenwürdiges Leben erlauben kann, die trotz der tatsächlichen Chancengleichheit durch die Maschen fallen.

Doch ist diese faire Leistungsgesellschaft, in deren Richtung die westlichen Wohlstandsgesellschaften langsam aber sicher streben, tatsächlich gerecht? Was ist mit Menschen, die völlig unverschuldet durch Krankheit oder Behinderung oder schlicht wegen eines tieferen IQs oder fehlender Begabung geringere Chancen in einer Leistungsgesellschaft haben? Kann die Leistung, die von so vielen unverschuldeten Faktoren wie angeborenen Talenten und der Förderung durch das Umfeld abhängt, überhaupt als Gradmesser dienen?

Bei diesem Problem setzt der egalitäre Gerechtigkeitsentwurf an, der eine Aufhebung natürlicher Unterschiede wie Intelligenz oder besonderen Begabungen anstrebt. Denn sind alle Menschen tatsächlich gleich, ist es verglichen ein Leichtes, sie alle gleich zu behandeln und somit absolute Gerechtigkeit auszuüben.

Anhand dieser drei Gerechtigkeitsentwürfe wird einem das Spannungsfeld zwischen Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit veranschaulicht. Um absolute Gerechtigkeit umsetzen zu können, müssten die von Natur aus unterschiedlichen Menschen gleicher gemacht werden. Dies geht mit einer Einschränkung der persönlichen Freiheit einher.

Umgekehrt kann absolute Freiheit nur auf Kosten der Freiheit anderer ausgelebt werden, was wiederum ungerecht wäre. Freiheit wird hier als Möglichkeit verstanden, sich ohne Einschränkungen ausleben zu können, Gleichheit steht für die Abwesenheit von Unterschieden.

In unserer westlichen Kultur löst die Vorstellung, die persönliche Freiheit und Individualität zugunsten der Gleichheit und somit Gerechtigkeit zu opfern, grosse Ablehnung aus. Unsere Unterschiede und individuellen Stärken und Schwächen machen uns gerade aus, uns diese zu nehmen, würde uns der Identität, gar unserer Menschlichkeit berauben. Diese Angstvorstellung ist Gegenstand zahlreicher Dystopien wie beispielsweise Aldous Hux- leys Brave New World. Die Lektüre solcher Bücher kann bei gewissen Menschen eine Bequemlichkeit auslösen, nichts an bestehenden Ungerechtigkeiten zu ändern oder sich gar in der aktuellen Weltordnung bestätigt fühlen lassen, da die in der Dystopie geschilderte Alternative noch viel schrecklicher wäre – jedenfalls für die Menschen auf der Gewinnerseite.

Dies bringt uns zurück zu Wildes Zitat. Dieses beinhaltet volles Bewusstsein für die Problematik der Ungerechtigkeit, zeigt aber keineswegs Bereitschaft zur Veränderung, denn „für die meisten von uns ist das gut so.“ Auf zynische Art reflektiert das Zitat die Haltung mancher Profiteure von Ungerechtigkeit, die nichts am System verändern wollen, solange es ihnen nicht schadet. Selbstverständlich ist es nicht so, dass alle Profiteure von Ungerechtigkeit das mit Freude tun oder gleichgültig wären. Auch sie sind – wie jene, die unter Ungerechtigkeit leiden – in eine Position hineingeboren worden, für die sie nichts können. Sie haben das System vielleicht nicht kreiert, tragen es aber mit ihrer Passivität weiter. Es braucht aber den Willen genau dieser Leute, um etwas an den bestehenden Strukturen zu verändern, indem man dem Gerechtigkeit-Gleichheit-Freiheit-Dilemma eine Chance für einen Kompromiss gibt, ohne gleich Angst mit totalitärer Gleichmacherei zu schüren. Für eine gerechtere Gesellschaft muss ein Kompromiss gefunden werden, der die Individualität der Menschen gewährleistet, ohne dass sie auf Kosten anderer Menschen und somit der Gerechtigkeit ausgelebt wird.

Dafür braucht es den Willen der Profiteure zum Gleichersein. Diesen zu generieren gleicht einer Herkulesaufgabe, denn niemand gibt gerne Privilegien auf. Wer sich an 8-Franken-T-Shirts gewöhnt hat, kauft nicht mehr so schnell eines für 30 oder gar 50 Franken, selbst wenn dadurch die Näherin aus Bangladesch endlich genug zum Leben verdienen würde.

Um die selbstzufriedenen Profiteuere zum Umdenken zu bewegen, eignet sich das berühmte Gedankenexperiment von John Rawls: Man stelle sich vor, ein neuer Gesellschaftsvertrag über das Zusammenleben würde ausgehandelt, aber keiner der Verhandelnden weiss, welche Position er oder sie danach in der Gesellschaft haben wird. Ob man dann Mitglied einer unterdrückten religiösen Minderheit ist, gesundheitliche Probleme hat oder ein erfolgreiches Unternehmen führt, ist völlig unklar. Ein „Schleier der Unkenntnis“ liegt über allen Beteiligten. Der daraus resultierende Gesellschaftsvertrag wäre nach Rawls gerecht, da alle potenziell in der schwächsten Position enden könnten und sich die Menschen daher für ein gerechtes Gesellschaftssystem einsetzen würden. Ob die Menschen in einer solchen Situation tatsächlich so bedächtig entscheiden würden und nicht etwa ein feudales Königreich errichteten und darauf pokerten, hinterher als König zu regieren, sei dahingestellt.

Sicher aber regt das Gedankenexperiment dazu an, die eigene eingeschränkte Position zu verlassen und sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Wie das Zitat von Wilde will auch das Gedankenexperiment zum Nachdenken anregen. Die damit ausgelöste Empathie führt dazu, dass zumindest ein Teil der Profiteure von Ungerechtigkeit sich zum Gleichersein bereit erklärt. Änderte sich deren Verhalten und Denkweise, könnten viele Ungerechtigkeiten in der Verteilung von Gütern, in der Etablierung einer gerechten Handels- und Steuerpolitik und in der Bezahlung von fairen Löhnen behoben werden. Die Behebung von Ungerechtigkeiten ist selbstverständlich nicht nur Sache der Profiteure, ungerecht behandelte Menschen sind natürlich genauso fähig, sich dagegen zu wehren und tun es bereits. Trotzdem haben jene, die in einem Machtgefälle oben sind, aufgrund ihrer Möglichkeiten die grössere Verantwortung, ja die Verpflichtung zu handeln.

Gerechtigkeit wird zur Frage der Moral, denn wer gleichgültig bleibt und die Dinge akzeptiert, spricht den ungerecht Behandelten ihre Menschlichkeit ab. Wie sonst könnte man sich das Recht herausnehmen, auf Kosten von jemand anderem zu leben?

Doch irgendwo tief begraben unter Vorurteilen, Gier und Bequemlichkeit gibt es Empathie und Güte, an die man appellieren und so Veränderung bewirken kann.

Aktuelle Artikel

...
Mehr Artikel
laden