Symbolbild

Die Leidenschaft zum Film

Mit der steigenden Popularität von unzähligen Streaming-Diensten wie Netflix oder Amazon Prime befinden sich Hollywood-Filmstudios in einer ähnlichen Lage wie in den 1950er, als das Fernsehen in die Häuser der Massen eindrang. Wie bringt man das potenzielle Publikum vom Komfort des eigenen Zuhauses wieder in die Kinosäle?

Damals versuchten es die Studios durch riesige Produktionen epischer Geschichten oder farbenreiche Musicals im Breitbild-Format, welches das Fernsehen nicht bieten konnte. Doch heute sieht es anders aus. Sogar der dominierende Mäusekonzern Disney veröffentlicht bald dessen eigene Streaming-Plattform Disney+ in Europa. Währenddessen produziert Netflix immer grössere Projekte, wie z.B. The Irishman (2019) von Regie-Ikone Martin Scorsese. Dieser ging zu Netflix, da er jahrelang sein Krimidrama in Epenlänge nicht von Hollywood-Studios finanziert bekommen hat. Der Mafiafilm bringt Schauspiellegenden Robert de Niro, Al Pacino und Joe Pesci nach Jahrzehnten wieder zusammen. Die Figuren werden über mehrere Dekaden gezeigt, weshalb die Filmveteranen in einigen Szenen mit Computereffekten verjüngt wurden. Die Lauflänge beträgt dabei auch noch satte 209 Minuten, weshalb ein Produktionsbudget von über $100 Mio. nötig war. Dies wäre für Hollywood-Studios, welche mit Disney konkurrieren wollen, eine kostspielige Investition. Die aktuelle Strategie der Industrie lautet also Assimilation. Kinotickets sind teurer geworden und Hollywood ist mehr und mehr risikoavers.

Die globalen Besucherzahlen sprechen für sich. Was den Grossteil aller Kinogänger in den letzten 20 Jahren ins Kino lockte, ist das Altbekannte. Die Rede ist von milliardenschweren Franchises und Cinematic Universes, Superheldencomic-Verfilmungen oder Live-Action Remakes. Sie alle dominierten den Zeitgeist. Die Ausnahme bestätigt jedoch bekanntermassen die Regel: Avatar (2009) wurde zum bis dato erfolgreichsten Film aller Zeiten, ohne auf bereits etablierte Figuren zurückzugreifen. Als einer der Vorreiter vom 3D-Kino gelang es dem Blockbuster unter anderem diesen massiven Durchbruch zu erreichen. Und auch wenn das popkulturelle Phänomen Avatar eine Anomalie darstellt, schreckt Hollywood wie bei allen profiteinbringenden Ideen, nicht davor zurück, so viel Geld wie möglich aus einer Marke herauszupressen. Mittlerweile sind bereits vier(!) Avatar-Sequels geplant und der zweite Teil soll im Dezember 2021 die Kinokassen füllen. Nur wenige etablierte Regisseure wie Christopher Nolan, Quentin Tarantino oder Jordan Peele erzielen für Studios einen finanziellen Gewinn, obwohl es sich bei ihren Werken um in sich abgeschlosse Stand-Alones handelt. Doch abseits dieser bekannten Filmemacher wird originellen Filmen weniger Beachtung geschenkt und es stellt sich die Frage, ob Filmprojekte, welche ein finanzielles Risiko darstellen, nun vermehrt auf Streaming-Dienste ausweichen müssen.

Der Kinobesuch stellt für viele ein kurzlebiges Spektakel dar. Die populärsten Filme bieten Eskapismus an in Form von lauter, knallender Action, humorvollen Sprüchen und enormen Welten und Schlachten, welche mit CGI erschaffen werden.

Am Ende des Tages kehrt wieder Frieden ein, die Guten gewinnen, die Bösen wurden geschlagen, bis sie wieder einen neuen Plan entwickeln. Konflikte werden schwarz-weiss gezeichnet. Moralische Ambiguität findet selten einen Platz in all der Reizüberflutung. Einen bleibenden Effekt hinterlassen diese Geschichten meistens nicht. Dennoch ziehen sie die Masse an, welche sich nur wenige Male pro Jahr ins Kino wagt. Der gewöhnliche Kinogänger möchte in seiner Wahl sicher sein, und am Ende das bekommen, was er sich erhofft hat. Hollywood bietet Familiäres, welches geringfügig neu verpackt wird, damit es vertraut, aber nicht identisch ist. Ich möchte auf keinen Fall sagen, dass alle Blockbuster und Fortsetzungen ausnahmslos schlecht sind, sondern dass sie trotz ihrer Popularität in ihrer Form oft nicht das bieten, was für mich das Medium Film wahrlich ausmacht.

Filme sind für mich am allerbesten, wenn sie Emotionen einfangen. Emotionen von realistisch wirkenden Figuren. Wenn ich mich während der Laufzeit in sie hineinversetzen kann, ihre Probleme, Ambitionen und Situation verstehe, mich mit ihnen identifiziere und für sie mitfühle. Wenn ich vergesse, dass das, was ich schaue, eigentlich Fiktion ist und das Ergebnis der Kollaboration von einer riesigen Zahl an Personen ist. Natürlich besitzen auch Blockbuster Protagonisten, mit denen man mitfühlen soll, da man sonst gar keine Spannung in den effektüberladenen Kämpfen verspürt. Doch was an erster Stelle steht, ist Massenappeal und Unmengen an Spezialeffekten, um letztendlich Profit zu generieren. Die Figuren, der Plot und die emotionale Tiefe sind zweitrangig. Die Emotionen, welche dem Zuschauer aufgedrängt werden, wirken unecht und unaufrichtig, Blockbuster sind zuerst Produkt und danach erst Kunst.

Blockbuster schöpfen das wahre Potenzial des Mediums oft nur geringfügig aus. Dem Zuschauer zu ermöglichen sich in andere Personen und Situationen hineinzuversetzen, ist das, was Filme schon seit jeher am besten konnten.

Film verbindet unter anderem das Erzählerische aus der Literatur mit der Emotionsvermittlung durch Musik und bringt es auf die Leinwand, er stellt sowohl ein visuelles wie auch ein auditives Erlebnis dar.

Man hört oder liest nicht nur von den Emotionszuständen, man sieht, spürt und fühlt es in den Figuren selbst. Film bietet dadurch eine direkte Immersion in die Geschichten, Figuren und deren Emotionszustände. Wenn man dieses Potenzial nutzt, dann kommen herausragend schöne Kunstwerke heraus, die einen zutiefst berühren.

Im Schweizer Kinojahr 2019 gab es für mich eine Menge denkwürdiger Filmerlebnisse. Zu erwähnen sind z.B. die beiden südkoreanischen Thriller Parasite (2019) und Burning (2018), die Liebesdramen Portrait de la jeune fille en feu (2019) und If Beale Street Could Talk (2018), das Horrorkammerspiel The Lighthouse (2019), die schwarzhumorige Komödie The Favourite (2018) oder das Scheidungsdrama Marriage Story (2019 – auch von Netflix produziert!). Die Begeisterung, die ich für diese Filme nach dem Verlassen des Kinosaals verspürte – und es immer noch tue, lässt sich kaum in Worte fassen. Alle diese Filme verfügten ein verhältnismässig geringes Budget, trotzdem überzeugen sie auf ganzer Linie. Egal ob Studio- oder Independentproduktion, sie beide profitieren davon, wenn sie im vollen Kinosaal auf der grossen Leinwand erlebt werden können und diese Erfahrung mit zahlreichen Personen geteilt werden kann. Es ist bemerkenswert, dass so viele fantastische Werke innerhalb von zwölf Monaten zu sehen waren, und dies war nur die Crème de la Crème. Fantastische Filme erscheinen jedes Jahr in den Kinos, man muss ihnen nur manchmal zuerst Beachtung schenken, wenn es der Mainstream nicht tut.

Wenn ich über meine Liebe zum Film spreche, gibt es keine Option, in der ich hier nicht den Regisseur Paul Thomas Anderson erwähne. Dieser verkörpert mit seinem Werk am meisten meine Leidenschaft für das Medium Film. Den meisten ist der Name vermutlich unbekannt. Nicht überraschend, da keiner seiner Filme die $100 Millionen-Hürde an den Kinokassen überwand. Zu seinen bekanntesten Werken zählen There Will Be Blood (2007), Boogie Nights (1997) oder Phantom Thread (2017) – wobei mein persönlicher Favorit The Master (2012) bleibt. Andersons Filmographie besteht aus eher unkonventionellen Charakterdramen mit einer Prise eigenartigem Humor und fast ausschliesslich einer Laufzeit von zwei bis drei Stunden. Während sein kürzester Film die romantische Komödie Punch-Drunk Love (2002) mit einer anderthalbstündigen Laufzeit eine Ausnahme darstellt, so ist Magnolia (1999) aufgrund seiner zehn verschiedenen Protagonisten, zwischen welcher die Handlung laufend wechselt, mit einer Laufzeit von über drei Stunden sein längstes Werk. Was P. T. Anderson jedoch – unabhängig von der Spiellänge – für mich schafft, ist es einige der cineastischsten Momente der Filmgeschichte zu kreieren und ein jeder seiner Filme begeistert mich von neuem.

Filmregisseur Paul Thomas Anderson am Set seines Filmes "The Master" (2012)

Die Hauptfiguren in Andersons Filmen sind alle distinkt charakterisiert und die Handlung setzt auf diese den klaren Fokus. Sie alle versuchen ihrer Vergangenheit oder ihrem Umfeld zu entfliehen und einen Sinn und Zweck für sich selbst im Leben zu finden. Anderson versteht und hat Sympathie für seine Figuren, deren grösster Konflikt es ist, zu leben als sich selbst. Es ist nicht ihre Aufgabe, die Welt oder das Universum retten zu müssen. Die Überwindung ihrer tiefsitzenden Traumata und Schuldgefühle ist Thematik seiner Geschichten. P. T. Anderson versteht, wie schwer dies für seine Figuren sein kann, doch er gibt sie nie auf und liefert dem Zuseher keine zynische oder hoffnungslose Antwort. In der Katharsis seiner Enden gibt er ihm dieses Gefühl, Hoffnung und Einklang in dieser Welt zu finden, mit und validiert somit auch dessen emotionale Ängste und Probleme. Jene Filme, welche eine solche Bindung zum Zuschauer aufbauen können und ihn berühren, erinnern einen daran, warum man überhaupt eine solche Leidenschaft für diese Erzählform besitzt.

“For me, the movies are like a machine that generates empathy.”
Roger Ebert, 2005, ehemaliger
Filmkritiker der Chicago Sun-Times

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