Ohne Menschen macht sich in der Steinenvorstadt eine trostlose Leere breit. Illustration: Angelica Bebing

Die Schöne und das Biest

publiziert in der «Schweiz am Wochenende»

Kaum eine Basler Strasse schafft es so oft in die Schlagzeilen wie die Steinenvorstadt. Aber ist die «Steine» wirklich so schlimm wie ihr Ruf? Eine Annäherung.

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In einer Stadt wie Basel, die für ihre schönen Seitengassen und kulturreichen Gebäude bekannt ist, sticht die Steinenvorstadt hervor: mit einer beispiellosen Charakterlosigkeit. Auf das eine kahle Haus folgt das nächste charmelose.

Selten lässt sich das besser beobachten als bei einem morgendlichen Besuch: Ohne Menschen macht sich in dieser Strasse Leere breit. Im Unterschied zu anderen Basler Strassen kann die Steinen nicht von ihrer Architektur oder ihrem naturgegebenen Flair zehren. So hässlich wie ihre Fassaden, so übel ist ihr Ruf. Ein Presseartikel jagt den nächsten über die berüchtigte Ausgehmeile. Erst kürzlich kursierte ein Video von einer Massenschlägerei in den Medien und löste sogar eine politische Debatte aus. Was ist los mit dieser Strasse?

Der Name der Steinenvorstadt stammt von der Birsig, einem kleinen Bächlein, das früher als stinkende Kloake durch die Innenstadt strömte. Ihr Ufer war von Steinen bedeckt. Wegen der pathogenen Mischung aus Abwasser, Kadavern und Abfällen, welche die Birsig mitführte, entschloss man sich, das Bächlein in den Untergrund zu verbannen. Heute fliesst sie unter dem Birsigparkplatz hindurch zur Schifflände, wo sie in den Rhein mündet. Mit dem Verschwinden von Gestank und Krankheitserregern konnte das Leben in der Strasse Einzug halten. Das zu Beginn noch schlichte Wohnquartier verwandelte sich in den 1910er-Jahren mit der Eröffnung des Küchlintheaters in eine schillernde Unterhaltungsmeile. Maskenbälle, Theateraufführungen und s’Drummeli entzückten die Baslerinnen und Basler dort regelmässig.

Mit dem Aufkommen des Kinos in den 50ern entwickelte sich die Steinenvorstadt zur Kinostrasse mit einem vielfältigen Angebot. Hunderte schauten sich gleichzeitig «Ein Herz und eine Krone» auf den Leinwänden der Steinenvorstadt an.

Illustration: Angelica Bebing

Heute, an einem Freitagabend im November 2021, ist in der Steinenvorstadt wenig los. Die Einkaufsläden sind bereits geschlossen und das kalte Wetter treibt die Leute nach innen. Einzelne sitzen draussen und wärmen sich die Hände am Feuer, geniessen einen Drink und sehen sich die WM-Qualifikation Schweiz – Italien an. Manche ziehen dabei an einer Shisha, andere an einer Zigarette. Ein paar dunkel gekleidete, angetrunkene Typen betreten den Burger King für einen nächtlichen Snack. Vor dem Balz Club unterziehen Türsteher einzelne Handtaschen und Rucksäcke einer Kontrolle, bevor den Partygängerinnen und Partygängern Eintritt gewährt wird, und ein paar Meter weiter beschimpfen sich zwei Zugedröhnte lauthals. In der Cuba-Bar läuft ein Tango, im Club nebenan Techno. Die Stimmung ist euphorisch, aber entspannt.

 

Als «Breakers» und «Teddies» regierten

Mit den Jugendunruhen in den 80ern entstanden in Basel gewalttätige, jugendliche Banden, sogenannte Gangs, die aus der Steinenvorstadt eine unheilvolle Gegend machten. Die «Skinheads», «Breakers», «Teddies» oder «Punks» prägten das Bild der Strasse. Ein entspannter Abend wäre in den 80er-Jahren nicht mehr möglich gewesen.

Im Jahre 1987 beschrieb ein Artikel im Basler Stadtbuch: «Neu an den heutigen Jugendbanden ist vor allem, dass sie keine Ideologie mehr vertreten. Der Hauptzweck dieser Banden liegt vielmehr in der Befriedigung von Grundbedürfnissen; dabei handelt es sich etwa um das Bedürfnis nach Kommunikation, nach freundschaftlichen Kontakten, nach Akzeptanz, nach Schutz, nach sozialer Heimat und nach einem Gefühl der Wärme. Anderseits soll das Klima der Bande entspannen und von den täglichen Sorgen und vom Stress ablenken.» Entgegen diesen Zielen sorgten sie aber in Basel mit Vandalenakten, Diebstählen und Körperverletzungen immer wieder für Unruhe. Zwischen dem Barfüsserplatz und der Heuwaage uferte die Gewalt regelmässig aus.

Ihren Höhepunkt erreichte die Gewaltbereitschaft mit einem Brandanschlag auf einen homosexuellen Mann. Eine Gruppe Jugendlicher griff ihn auf einer öffentlichen Toilette an, er flüchtete daraufhin in eine WC-Kabine. Als der Mann sich weigerte, herauszutreten, zapfte die Gruppe von einem Motorrad kurzerhand etwas Benzin ab und zündete ihn an. Brennend rannte er auf die Strasse, das Feuer konnte dort gelöscht werden. Der Mann überlebte den Anschlag, erlitt aber schwere Verbrennungen. Die Ziellosigkeit der Angriffe machte diese Strasse gefährlich. Es konnte jede und jeden zu jeder Zeit treffen.

Die Strasse erhielt rasch nationale Aufmerksamkeit: Medial befasste sich beispielsweise das Schweizer Fernsehen in einer Livesendung mit der Problematik der Steinen-Kids. Gemeinsam sprach die Jugend mit der Polizei und Politik über den Ort und die Gewaltbereitschaft. Zum Zeitpunkt der Ausstrahlung, im Jahre 1989, hatte sich die Situation mit den Banden, im Vergleich zu den frühen 80ern, schon deutlich verbessert. Die Steinen blieb dennoch ein beliebter Treffpunkt für Jugendliche, die sich mit Rap, Breakdance und Skateboard ihre Zeit vertrieben.

Den Ruf einer gewalttätigen Jugend, die Schaufenster zer- und Menschen verschlug, blieb aber noch lange in den Köpfen der Baslerinnen und Basler – ganz zum Missmut der damaligen Steinen-Kids.

Eigentlich hallt der Ruf der Gewalt bis heute nach. Ein Zwischenfall genügt und schon ist das Bild für weitere Jahre konserviert. In den Gesprächen in der Steinen äusserten sich viele ungefragt zum Thema Gewalt. Es scheint fast so, als wäre Kriminalität eine Konstante, die das Bild der Steinen prägt und die Strasse so schnell auch nicht loswerden wird. Kurz vor Mitternacht wird die Stimmung ausgelassener und die Polizeipräsenz nimmt zu.

«Do wird mer eifach z’oft agstresst»

Im Livegespräch mit SRF moniert eine junge Frau:

«Es wärde eifach alli in gliche Sagg iinegsteggt»

Alles, was die Jugend wolle, sei ein Ort, an dem sie sich ausleben könne – ohne Vorurteile anderer. Die Steinenvorstadt habe sich zu einem Treffpunkt entwickelt, wo sich die Jugend wohlfühle und sich abends im Ausgang treffe. Man kenne in der Steinen jede und jeden, und es sei immer etwas los.

Auch der damalige Präsident der IG Steinenvorstadt bestätigte während der Fernsehübertragung, dass es in der Steinenvorstadt zwar viele Jugendliche gebe, aber auch proportional wenig Gewalt. Er bemerkt:

«Sie [die Jugendlichen] bringe Läbe in d’Steine.»

Auch die Polizei beschwerte sich nur subtil. Das einzige Problem sei inzwischen der Besitz und das Tragen von Waffen durch Jugendliche.

Zur friedlichen Entwicklung beigetragen hat bestimmt auch die Umgestaltung der Strasse in eine Fussgängerinnen- und Fussgängerzone. Seit 1994 gilt ein striktes Fahrverbot für Fahrzeuge inklusive Fahrräder. Die Steinen wurde nun eine Ausgangs- und Shoppingmeile. Seitdem befindet sich die Strasse in stetigem Wandel und ist heute für ihren bunten Mix aus Bars, Clubs, Kinos und Einkaufsläden bekannt.

Schnell werden alle Jugendlichen in einen Topf geworfen. Illustration: Angelica Bebing

«Mir verbringe de Uusgang sälte in de Steine. Do wird mer eifach z’oft aagstresst»

berichtet ein junger Mann mit Stoppelfrisur. «Einzelni Type sueche do immer wieder dr Konflikt und provoziere extra Schlägereie», ergänzt sein Kollege, mit dem Bier in der einen und dem Handy in der anderen Hand. Dem widerspricht ein Angestellter des VIP Bar Restaurants. Die Gewaltsituation habe sich in den vergangenen drei Jahren verbessert. Die Steinenvorstadt sei ein ruhiger und sicherer Ort geworden. Klar komme es vereinzelt zu Schlägereien, das sei aber nichts Ungewöhnliches bei den Menschenmassen, die hier ihre Nächte verbrächten.

Laut der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt zählt die Steinenvorstadt zu den stark belebten Strassenzügen. «Die Steinenvorstadt sticht hier aus Sicht der Kriminalpolizei der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt nicht heraus.» Anders berichtet die Basler Polizei: Sie sei mit einer höheren Präsenz an den Hotspots wie der Steinenvorstadt unterwegs. Die Erfahrung zeige aber, dass sobald die Feiernden durch Alkohol und Drogen enthemmt seien, auch die präventive Wirkung einer hohen Polizeipräsenz nachlasse. Immerhin: Anders als in den 80er-Jahren kam bei keinem der in den vergangenen fünf Jahren begangenen Delikte Waffen zum Einsatz.

Hinter einer Hygienemaske versteckt, beklagt sich eine Mitarbeiterin des Corona- Testcenters über die ständigen lasziven Blicke, die hier in der Steinen ihren Körper betrachten. Manche Männer sässen in den Aussenbereichen extra zur Strasse gerichtet, um das Geschehen und die vorbeilaufenden Frauen besser beobachten zu können. Angepöbelt wurde sie aber noch nie. Im Testcenter habe sie aber mehrheitlich Probleme mit Menschen, die ihren Missmut über die von der Regierung beschlossenen Massnahmen rauslassen müssten.

 

Trotz allem: Ein verzerrtes Bild der Realität

Im Mai 2020, mitten in der Coronapandemie, stand die Steinen erneut schweizweit im Rampenlicht. Während einer ausgelassenen Partynacht pfiffen Hunderte Feiernde auf die Massnahmen. Um die Situation wieder unter Kontrolle zu kriegen, beschloss die Regierung einen dreistufigen Plan. Die Sondermassnahmen für die Boulevardzone der Steinen schränkte die Freiheiten rigide ein – zum Missmut einiger Gastrobetreibender. Bei erneuter Missachtung drohte sogar die komplette Sperrung der Strasse.

Gut ein Jahr später, im Mai 2021, galt in der Steinenvorstadt ein begrenztes Konsumationsverbot aufgrund der Erfahrungen im vorherigen Jahr. Und schliesslich wurde ein Fussballspiel zu einem Superspreader-Event. Gemeinsam verfolgten Hunderte Fans das EM-Viertelfinal in der Steinenvorstadt – und steckten sich gegenseitig an.

Nicht weit entfernt heulen regelmässig Motoren. Teure Autos fahren auf dem Birsigparkplatz ein und aus. Ein Gespräch mit einer Gruppe alkoholisierter Männer klärt auf: «Sie sueche eine vo de sältene Parkplätz und mache defür mehrmols d’Rundi. Aber klar dörf s’Präsentiere vom eigene Wage nit fähle.» Auf Nachfrage, weshalb sie denn hier in der Steinen ihren Abend verbrächten, schoss ihre Antwort nur so heraus: «Will mir nit nach Züri händ könne. Niemert vo unsere Kollege het Zyt kah zum uns fahre… d’Steine bliibt unseri letschti Option.»

Nach einer Nacht in der Steinenvorstadt wird klar: Die Menschen machen diesen Ort aus. Sie geben der sonst charakterlosen Strasse eine Seele. Von denjenigen, die dort arbeiten, über die grosse Mehrheit, die feiern geht, bis hin zu den passionierten Autofahrenden, die auch nach der zehnten Runde durch den Birsigparkplatz noch eine elfte vor sich haben, verbringen sie gemeinsam ihre Abende in der Steinen. Sie füllen die berüchtigte Strasse mit Leben.

Das Dröhnen der getunten Wägen, das Grölen und Streiten der Feiernden, die Sirenen der Polizei und der Jubel der Fans hallen von den starren Fassaden und lassen die Luft vibrieren. Viele können sich in der Steinen ausleben oder dem Alltag entfliehen. Sei es im Kino oder im Alkoholrausch.

Der Ruf eilt der Strasse voraus und zeichnet ein verzerrtes Bild der Realität. Vielmehr als eine Strasse der Gewalt ist die Steinenvorstadt heute ein Ort, an den man hingeht, um zu sehen und gesehen zu werden.

Editorial: Eine besondere Zusammenarbeit

Der «Spiegel» mit dem Österreicher «Standard», der «Guardian» mit der «New York Times»: Zusammenarbeiten zwischen unterschiedlichen Redaktionen sind schwer en vogue. Mit «Quint» ist auch die «Schweiz am Wochenende» eine einmalige Partnerschaft eingegangen. Entstanden ist dieser Schwerpunkt, der ein Schlaglicht aus ganz besonderem Winkel wirft auf die Steinenvorstadt, eine der bekanntesten und berüchtigtsten Strassen der Schweiz.

Besonders deshalb, weil sich hinter dem Namen «Quint» eine spezielle Redaktion versammelt: Die Journalistinnen und Journalisten, Grafikerinnen und Layouter sind alles Schülerinnen und Schüler in Basel. Es ist ein für die Schweiz beispielloses Projekt: Entstanden aus Misstrauen gegenüber postfaktischem und sensationsheischendem Journalismus, ist das Magazin zur grössten Schülerzeitung der Stadt angewachsen. Das Team beliefert alle Basler Gymnasien und die Fachmaturitäts- schule drei- bis viermal im Jahr mit einer Auflage von 1500 Exemplaren und seit kurzem auch digital mit einer professionellen Website unter www.quint-online.ch.

Jede Ausgabe beinhaltet liebevoll recherchierte und persönlich verfasste Berichte zu einem Überthema. Die Jugendlichen scheuen sich nicht vor grossen Stoffen: sexuelle Identität, Anorexie, Migration. Das Magazin besticht mit toll aufbereiteten Grafiken und Illustrationen; online flankiert von Videos. Mit diesem Schwerpunkt stellen die Quintlerinnen und Quintler ihr Können dem Publikum der «Schweiz am Wochenende» unter Beweis. Der Text unterstreicht die Charakterzüge der jungen Redaktion: Er hinterfragt, was andere Medien schreiben, stellt eigene Beobachtungen ins Zentrum und berichtet mit einer persönlichen Färbung. «Quint» hatte beim Erarbeiten möglichst viele Freiheiten zur Verfügung. Lediglich zwei gemeinsame Redaktionssitzungen fanden statt. Alles dazwischen und die gesamte Recherche gestalteten die jungen Menschen auf eigene Faust.

Die «Schweiz am Wochenende» bedankt sich für dieses tolle Engagement. Wenn solche Leute an die Türe klopfen, ist das ein gutes Zeichen für den Basler Journalismus.

– von Benjamin Rosch

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