Die Universalität des Klassenkampfes in „Parasite“

Bereits einen Monat ist es her, seit Geschichte geschrieben wurde. Präziser formuliert: Filmgeschichte. Noch präziser: Oscargeschichte.

Am 9. Februar 2020 wurde Parasite (기생충 / Gisaengchung) mit vier Oscars ausgezeichnet. Der südkoreanische Film wurde ausgezeichnet als Bester Internationaler Film, für das Beste Originaldrehbuch, die Beste Regie und als Bester Film. Dies ist nicht nur historisch, weil es der erste südkoreanische Film ist, der überhaupt erst nominiert wurde, sondern weil es auch zum allerersten Mal seit dem Beginn der jährlich vergebenen Verleihung im Jahr 1929 ein nicht-englischsprachiger Film geschafft hat, den Hauptpreis als Bester Film zu gewinnen. Bong Joon-Ho (Regisseur, Drehbuchautor und Produzent) gelang das bis dato Unmögliche und es ist immer noch kaum zu fassen, dass diese Barriere endlich durchbrochen wurde.

Man könnte sich die Frage stellen, warum es so lange ge- dauert hat, bis es endlich dazu gekommen ist. Einige Filme waren in der Vergangenheit bereits nah dran, doch strauchelten auf der Zielgeraden. wie z.B. Crouching Tiger, Hidden Dragon im Jahr 2001, oder Roma knapp ein Jahr vor Parasite. Das ganze Oscarsystem, von Erstaufführungen an Filmfestivals, Presse, Resonanz, Voting-Verfahren, etc., ist überraschend komplex und viele Boxen müssen abgehakt werden, damit ein Film überhaupt ins Rennen um das Goldmännchen einsteigt. Dies alles zu erfassen, würde hier den Rahmen sprengen, doch der vermutlich entscheidendste Faktor für Parasites Erfolg war dessen enorme Popularität.

Seit seiner Erstaufführung im Mai an den renommierten Filmfestspielen in Cannes, wo Parasite einstimmig den Hauptpreis der Palme D’or gewann, bildete sich ein massiver Hype um den Film auf, der sich über Monate lang hielt. Kaum ein anderer Film war vergangenes Jahr so sehr Zentrum des Diskurses in der Filmwelt. Joker, der in die Oscarnacht mit den meisten Nominierungen einstieg, wurde zwar stärker in den Medien thematisiert und brach auch den Rekord als erster R-Rated Film, der über eine Milliarde Dollar an den Kinokassen einspielte, doch er wurde viel kontroverser aufgenommen und es spalteten sich die Meinungen stark zwischen Kritiker und normalen Kinogänger. Bei Parasite war dies nicht der Fall, kaum negative Stimmen äusserten sich und der Film wurde universell als Meisterwerk gelobt. Dies führte auch zum finanziellen Profit, da der Film weltweit mittlerweile über 200 Mio. Dollar Gewinn erzielte und dies bei einem Budget von umgerechnet gerade mal 10 Mio. Dollar. Diese starke Resonanz nahm auch die amerikanische Filmindustrie auf und letztendlich zeichnete die Academy das südkoreanische Werk mit den meisten Trophäen an jenem Abend aus.

Wenn ich zurückdenke an diese historische Nacht, denke ich an die enorme Spannung, den plötzlichen Schock und die überwältigende Euphorie, die folgte, die ich und so ziemlich die ganze Filmwelt in diesen Momenten verspürte. Der Filmemacher selbst konnte es auch kaum glauben, als sein Name so oft genannt wurde und er öfters als zweimal auf die Bühne durfte. Die Preisvergabe war letztendlich entscheidend, da mit der Zeit klar wurde, dass wenn es Parasite nicht schafft, diese Sprachbarriere zu durchbrechen, es eigentlich kein anderer nicht-englischsprachiger Film in der Zukunft schaffen würde. Doch die Tore sind nun glücklicherweise geöffnet worden für alle anderen internationalen Filmemacher/innen.

Bong Joon-Ho, selbst über- rascht vom enormen Erfolg, bemerkte in einem Interview:

«When directing the movie, I tried to express a sentiment specific to the Korean culture, and I thought that it was full of Koreanness if seen from an outsider’s perspective, but upon screening the film after completion, all the responses from different audiences were pretty much the same, which made me realize that the topic was universal, in fact. Essentially, we all live in the same country called capitalism, which may explain the universality of their responses.”

Parasite ist eben nicht nur ein unterhaltsamer Kinobesuch, mit denkwürdigen Momenten voller Nervenkitzel, Humor, dramatischer Ironie, Spannung, Schock und bitterer Hoffnungslosigkeit, nein. Die Thrillerkomödie, wenn sie sich überhaupt als solche betiteln lässt, da der Wechsel und die Balance von zahlreichen Genres und Emotionen so meisterhaft und unbemerkbar geschehen, stellt auch eine dicht bestückte und voller Symbolik verpackte Parabel über den Klassenkampf zwischen Arm und Reich dar. Dieser filmische Spagat zwischenUnterhaltungskino, welches ein minutiös durchdachtes Tempo aufweist und zu keiner Sekunde ins Straucheln gerät, und anspruchsvoller tieferen Deutungsebenen mit soziokulturellen Aussagen ist das, was Parasite vom Mittelmass differenziert und wie Regisseur Bong feststellt, auch ein Grund sein könnte, für den breitgefächerten Anklang, der dieses Meisterwerk erfuhr.

Es scheint als hätten sich diverse Filmemacher 2019 vereint und gemeinsam das Thema des Klassenkampfs als Angriffspunkt ihrer völlig unterschiedlichen Geschichten genommen.

Vom Horrorfilm Us von Jordan Peele, dem komödiantischen Murder-Mystery Knives Out von Rian Johnson, bis zur Comicbuch-Verfilmung Joker, sie und zahlreiche mehr widmen sich der sozialen Diskrepanz zwischen Arm und Reich, doch keiner von ihnen schafft dies so graziös, subtil und reich an Tiefe wie Parasite. Bong-Joon Ho, welcher Soziologie studierte, setzt dabei den Fokus auf zwei unterschiedliche Familien und wie sie unter einem kapitalistischen System sich entscheiden zu handeln und handeln müssen.

Cover vom Film Parasite

Die erste Familie, Familie Kim, lebt in einer Halbkeller-Wohnung, sie sehen immer noch Strahlen des Sonnenlichts, doch leben auf engstem Raum zusammen, haben mit Ungezieferprobleme und an Schilder urinierende Nachbarn zu kämpfen, doch können trotz ihrem Talent, Verstand und ihrer Arbeitswilligkeit keine gut bezahlte Stelle finden. Die andere, die Familie Park, lebt auf einer geographisch höher gelegenen Stelle, mit breiten Fenstern und einem Garten, in dem sie ohne Probleme ein Sonnenbad nehmen können, das Haus mit mehreren Stockwerken, moderner Einrichtung und technischen Neuheiten gefüllt, vom direkten Kontakt mit Nachbarn abgeschottet, der Vater kann sich als Alleinversorger dennoch ohne Probleme Dienstfrau, Chauffeur und Nachhilfelehrer für seine Kinder leisten, wovon das jüngste Kind bereits mit seinen Gekritzel als grosses Kunstgenie gelobt wird. Zwischen den Umständen dieser beiden Familien liegen Welten dazwischen, und das ungleiche System zieht parteiisch eine klare Grenze zwischen ihnen. Diese Grenze wird sowohl in den Dialogen wie auch den in Aufnahmen der präzis geplanten Kameraeinstellungen nochmal verdeutlicht. Mr. Park betont mehrmals, dass es eine Linie gibt, welche überschritten werden kann, doch er ist froh darüber, dass sie dennoch eingehalten wird. In der Kamera wird das dadurch verdeutlicht, dass die Kims, und ebenso z.B. die noch ärmere Haushälterin der Parks, visuell von den Familienmitgliedern der Parks durch vertikale Linien im Raum getrennt werden, sei es eine Glasscheibe oder eine Kühlschranktür. Es gibt zwei Parteien und die visuelle Trennung dieser erinnert das aufmerksame Auge an die Botschaft dieses Systems – man soll seinen Platz innerhalb dessen wissen und einhalten.

Die Charakterisierung der Figuren ist ebenso zu berücksichtigen und ausschlaggebend für die Aussagen, die der Film achtsam und stilvoll macht. Die Kims mögen zwar moralisch graue Zonen betreten, doch sind nicht selbstverschuldet in ihrer Situation und verfolgen die Idee, diese zu verbessern, wie es das System ihnen propagiert und weismachen will. Der Plan, welchen die Kims verfolgen, um dieses Ziel zu erreichen, ist eigentlich nach den vom Kapitalismus aufgestellten Regeln vertretbar, die wahre Tragödie liegt darin, nicht ausserhalb dieses Systems handeln und denken zu können, um einen besseren Lebensstandard für sich zu erzielen. Sie gestehen sich die Hoffnungslosigkeit ihrer trostlosen Situation nicht ein und können nichts anderes tun, als dieselben Zyklen zu wiederholen. Genauso sind die Parks mit Sorgfalt realisiert worden. Sie sind keine eindimensionalen Karikaturen, welche die Unterschicht unterdrücken, um ihre eigene Position zu wahren. Die Kims bemerken sogar einmal, dass sie reich, aber trotzdem nett sind, verschärft wird jedoch die These aufgestellt, dass sie nett sind, weil sie reich sind. Das einzige, was die wohlhabenden Parks wirklich ausstrahlen, ist Naivität und Empathielosigkeit für das Umfeld, in welchem sie leben und unter welchem andere Menschen Leiden erfahren, welches sie in ihrem bequemen Heim ignorieren können. Der Gegner sind nicht die Reichen, oder die Mit-Armen, welche einen im Weg stehen, um an die Spitze zu kommen, es sind die immanenten Werte einer Gesellschaftsstruktur, welche diesen Klassenkampf überhaupt erst zustande bringt.

Parasite zeigt somit die schadenbringenden Konsequenzen des durch den Kapitalismus entstandenen und ermutigten Klassenkampfs effektiv auf und setzt dies effizient in seiner im Flug vorbeigehenden Laufzeit um. Doch die wahre Dichtheit und Komplexität von Bong Joon-Hos Geniestreich lässt sich kaum angemessen auf eine einzige, möglichst spoilerfreie Rezension reduzieren. Jedes einzelne Element des Schnitts, der Musik, dem Sounddesign, dem Schauspiel, dem Drehbuch, der Kamera, der Ausstattung und der visuellen Spezialeffekte kommt so meisterhaft und simpel erscheinend zu einer grossen cineastischen Sinfonie zusammen, dass sich endlos viel Diskussionsstoff in unmittelbarer Nähe bereithält.

Es ist äusserst befriedigend, wenn tatsächlich einmal der unbezweifelbar beste Film des Jahres auch die Auszeichnung als solchen erhält. Es wirkt immer noch etwas surreal, da dies tatsächlich so selten geschieht, aber es füllt mich stets mit enormer Freude, daran zu denken, dass die Academy dieses Jahr die richtige Wahl getroffen hat.

Aktuelle Artikel

...
Mehr Artikel
laden