Illustration: Hannah Oehry

Dissoziative Persönlichkeitsstörung

Die Dissoziative Identitätsstörung oder umgangssprachlich “Multiple Persönlichkeitsstörung” ist ein Krankheitsbild, welches sich meist durch schwerste Misshandlungen in der frühen Kindheit entwickelt. Weltweit leiden etwa 0.5 bis 1% der Gesamtbevölkerung daran (dies entspricht in etwa der Häufigkeit der Schizophrenie).

Eine Dissoziative Identitätsstörung entsteht, wenn ein Kind bereits in den ersten Lebensjahren Situationen ausgesetzt wird, die so grausam und traumatisch sind, dass die im Kindesalter noch nicht vollkommen ausgebildete Persönlichkeit nicht mehr damit leben kann. Ein Kind, welches elterliche Gewalt oder sexuelle Misshandlung erlebt, wird zwar höchstwahrscheinlich schwere psychische Probleme davontragen, welche keineswegs zu unterschätzen sind, eine Dissoziative Identitätsstörung jedoch kaum entstehen. Um ein solch allumfassendes und ausgeprägtes Störungsbild zu entwickeln muss die Misshandlung über Jahre andauern, täglich, oder fast.

Es handelt sich dabei um Grausamkeiten, die man sich nicht vorstellen kann.

Fast alles hat sie vergessen, kann sich nicht mehr an die Menschen erinnern, die sie jeden Tag misshandelt haben.

Sie weiss nur noch, das einer davon ihr Stiefvater war, eine andere ihre eigene Mutter. Beide gehörten wohl einem Kult an, dessen Ideologien diesen rituellen Missbrauch legitimierten.

Aus therapeutischen Zwecken möchte die Frau, die auf den ersten Blick nicht auffällig ist, ihre Geschichte aufarbeiten, möchte sich erinnern. So liest sie die Tagebücher durch, welche sie damals mit den schrecklichsten Erinnerungen und Bildern füllte. Bilder von Tieren und Menschen, viel Blut, Kreuze, Satansfiguren. Geschichten der Misshandlung.

Mit zwölf wurde sie schwanger, gebar ein Kind von einem der Misshandler. Kurz nach der Geburt wurde sie dazu gezwungen ihr eigenes Kind umzubringen. Das hat sie nicht vergessen. Auch Tiere musste sie töten.

Als die Frau zusammen mit den Reportern an einen Platz gehen, an den sie sich zu erinnern glaubt, bekommt sie plötzlich schreckliche Knieschmerzen und blitzartig die Erinnerung: Jemand spring auf ihr Knie drauf. Als sie einen anderen Ort der wagen Erinnerung aufsuchen, bekommt sie schreckliche Atemnot und Sprachprobleme, als ob sie seit der Geburt eine Sprachbehinderung hätte. Sie erinnert sich an Todesangst und an jemanden, der ihr Kopf unter Wasser drückt. Erinnert sich daran gefilmt zu werden, während dem sie gezwungen wurde sich langsam auszuziehen, dabei musste sie lächeln. Sie erinnert sich an jemanden, der ihr die Beine auseinanderdrückte und mit ihren Geschlechtsteilen herumspielte.

Währenddessen ging sie zur Schule und jahrelang wusste niemand davon.

Eine Parallelwelt, die verborgen bleibt.

Ein gefoltertes Kind, dass keinem auffällt, höchstens negativ weil es häufig von der Schule fernbleibt.

So geht das immer, wenn sie sich blitzartig zu erinnern beginnt.

Damit diese schrecklichen Erlebnisse auf irgendeine Weise überlebt werden können, spaltet (dissoziiert) sich die Persönlichkeit. Es gibt nun die “Emotionalen Persönlichkeiten” (EP), jene, die allen Schmerz und jede Angst ertragen. Manche davon lassen die Folter still über sich ergehen, manche wehren sich (nicht, dass es was brächte). Sie sind diejenigen, die die traumatischen Erinnerungen bewahren. Auf der anderen Seite gibt es die “Anscheinend Normalen Persönlichkeiten” (ANP). Sie leben den Alltag, gehen zur Schule, durchleben eine (im weitesten Sinne) normale Entwicklung. Sie können sich meist nicht an die Misshandlungen erinnern, haben sich von diesem Teil des Lebens vollkommen abgespalten.

Im Alltag ist es oft so, dass ein “Hauptpersönlichkeitsanteil” an der Oberfläche ist. In Momenten, in denen das Leben einen normalen Lauf nimmt, ist meist dieser im Vordergrund. Kommt die Person in eine schwierige Situation oder in eine, die an die Geschehnisse in der Kindheit erinnern, so treten meist andere Anteile hervor. Ein achtjähriges Kind zum Beispiel oder ein äusserst aggressiver Teenager.

Die einzelnen Fragmente der Persönlichkeit können sich auf drastische Weise (und nicht ausschliesslich in Charaktereigenschaften und Reaktionen) unterscheiden. Unterschiedliche Dioptrien und unterschiedliche Handschriften, sogar ob Links- oder Rechtshänderin kann variieren. Alter und Geschlecht sind Eigenschaften, die sich ebenfalls häufig unterscheiden.

Manche sind geruhsam, manche aufgestellt, manche aggressiv, als ob es unterschiedliche Individuen wären, die sich im selben Körper eingenistet haben. Es ist meines Wissens nicht möglich, die Störung vollkommen loszuwerden, die vielen Persönlichkeitsanteile wieder zu verschmelzen.

Die Psychotherapie setzt sich zum Ziel, die Persönlichkeiten zu koordinieren. Betroffene sollen lernen, damit umzugehen und die Wechsel zwischen den Anteilen sollen weniger plötzlich und häufig werden. Auch ist es wichtig, dass alle voneinander wissen, damit die Erinnerungslücken, die entstehen, wenn die Anteile so abgespalten voneinander sind, dass die Zeiten, die die eine lebt, der andere nicht mitbekommt, geschlossen werden können.

Trotz allem wird die Vierzigjährige mit aller Wahrscheinlichkeit ihr Leben lang von sich als “wir” sprechen.

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