Ein Buch der Leidenschaft

Anne Franks Tagebuch, das Werk, das Frank als Schulmädchen beginnt und als Philosophin abschliesst und Millionen von Menschen berührt und inspiriert hat, ist viel mehr als nur ein Tagebuch, es ist die gesamte Lebenswelt eines ausserordentlichen jungen Mädchens, verpackt in einem Buch. Für mich ist dieses Buch Leidenschaft.

Anne Frank hatte sich dem Schreiben vollkommen gewidmet; sie wolle Schriftstellerin werden, erklärt sie selbst in eben diesem Tagebuch. Über mehr als zwei Jahre hinweg schreibt sie, zuerst in ihr Tagebuch, dann in alte Buchhaltungshefte, und berichtet ihrer fiktiven Brieffreundin Kitty von ihrem beengten Leben im Hinterhaus. Durch ihre Aufzeichnungen wurde sie weltberühmt, Nachkriegsgeneration um Nachkriegsgeneration trauert ihr nach. Sie wird zum Symbol der Millionen von Holocaust-Opfern.

Die andere Seite von Anne Frank, die ambitionierte junge Schriftstellerin, die neben diesen persönlichen Aufzeichnungen noch unzählige Geschichten schrieb und wie besessen ihre alten Tagebuchseiten verbesserte, vergessen dabei viele.

Anne wollte sich ihren Erfolg und ihren Ruhm durch ihre Geschichten, durch ihr Talent verdienen. Diese Anne wollte nicht als Märtyrerin vergöttert werden.

Denn sie ist sich bereits bewusst, dass sie Autorin werden möchte, als sie mit knapp 13 Jahren ihr Tagebuch zu schreiben beginnt. Zeichnen könne sie nicht, also sei für sie die Sprache ihre Kraft, um sich selbst auszudrücken. Mit viel Ironie sich selbst und ihrem Umfeld gegenüber bringt sie dem Leser ihr Leben, ihre Gedanken und Träume nahe. Dabei hatte Anne ursprünglich niemals vorgehabt, ihr so persönliches Tagebuch zu veröffentlichen. Erst ein Beitrag im englischen Radio bringt sie auf die Idee, dass sich vielleicht irgendwann sogar jemand für ihr Buch interessieren könnte. Nach dem Krieg wolle man Schriftstücke aus dieser Zeit veröffentlichen: Briefe, Gedichte oder eben Tagebücher.

Und so beginnt Anne im Mai 1944 ihre knapp zwei Jahre alten Tagebucheinträge zu überarbeiten. Nebenbei führt sie die aktuellen Einträge weiter und schreibt Geschichten. Sie schreibt und schreibt und schreibt, wie von Sinnen, „als spüre sie das nahende Unheil“.

In ihr wächst der Wunsch und die Idee eines Romans über das Hinterhaus, den sie nach Kriegsende veröffentlichen wollte.

Mit unglaublich viel Selbstkritik überarbeitet sie ihre alten Einträge, die ihr zu spontan und kindlich erscheinen. Diese sollen zwar als Grundstock für ihr neues Buch dienen, müssen jedoch verbessert und erweitert werden. Sonst, so fürchtet sie, könnte sich die Welt nicht für ihr Werk interessieren. Die Schriftstellerin in ihr will aus dem Dokument ihrer Jugend ein literarisches Meisterwerk zaubern.

Die Tagebucheinträge, die sie bis zu jenem verhängnisvollen 4. August 1944 revidiert, umfassen alle Einträge bis zum 29. März desselben Jahres. Dem Tag, an dem sie erstmals die Idee erwähnte, ihr Tagebuch zu veröffentlichen.

Das Tagebuch endet am 1. August 1944 mit Annes letztem Eintrag. Ihr dokumentarisches Werk, ihr Tagebuch, das sie mit ihren spontanen Gedanken und Hoffnungen, Ängsten und Freuden, Erfahrungen und Ideen gefüllt hatte, ist damit in gewisser Weise vollendet.

Ihr Roman, das Werk ihrer literarischen Ambitionen, ihr Werk der Leidenschaft, ist es nicht.

Wird es nie sein.

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