Ein moralisches Dilemma im Wendepunkt Europas – Ein Kommentar

Ist es unsere moralische Pflicht, Waffen in die Ukraine zu liefern? Diese Fragestellung bildet
den Kern einer neu entstandenen, häufig geführten, moralischen Diskussion. Auslöser für die
Diskussion ist der russische Angriff auf die Ukraine, der seit Ende Februar andauernd für
viele Menschen eine Zeitenwende in Europa markiert. Viele sprechen bei diesem Konflikt
von einem Wendepunkt in der Geschichte Europas, welcher die sonst so weit entfernte
Vorstellung vom Krieg direkt auf unsere Türschwelle gebracht hat. Ich behaupte ja, es ist
unsere Pflicht als Westen, Waffen zu liefern. Was die Forderung nach Waffenlieferungen mit
unserer Glaubhaftigkeit und dem Westen als Vorbild zu tun haben? Einiges, wie sich bei
näherer Betrachtung zeigt.

Entsprechend intensiv wurde sich in den vergangenen Monaten im öffentlichen Raum mit
dem Vorgehen (des Westens) in diesem Krieg befasst. Die Mehrheit der Öffentlichkeit und
Kriegsexperten schien über weite Strecken des Krieges nicht an einen Sieg der Ukraine zu
glauben, zu omnipräsent war das Bild der vermeintlich erdrückenden russischen Übermacht.
Da diese Verteidigung bereits über ein halbes Jahr andauert, werden Stimmen laut, die so
schnell wie möglich ein Ende des Krieges durch Friedensverhandlungen fordern, um so
möglichst viel unnötiges Sterben zu verhindern.
Der Deutsche Philosoph Richard David Precht denkt, der schnellste Weg, solche
Friedensverhandlungen zu erreichen, sei nicht, den Krieg mit westlichen Waffenlieferungen
an die Ukraine zu verlängern. Demgegenüber steht Markus Lanz, der in zahlreichen
Sendungen und Streitgesprächen seine Ablehnung von Prechts Position betonte. Er sieht es als
unsere moralische Pflicht, die Ukraine durch Waffenlieferungen in ihrem Recht auf
Selbstverteidigung zu unterstützen. Der Konflikt beider Positionen wird in der Sendung
„Markus Lanz“ vom 12. Juli auf den Punkt gebracht. Precht und Lanz dienten mit ihren
konträren Ansichten als Vertreter der jeweiligen Positionen. Einen Ausschnitt dieser Sendung,
wurden einer Schulklasse abgespielt, um im Anschluss darüber zu diskutieren. Precht steht
dabei vereinfacht für alle, die Waffenlieferungen ablehnen, Lanz hingegen für all jene, die
Waffenlieferungen befürworten und für die moralische Pflicht des Westens halten.
Ein häufiger Begriff in dieser Diskussion ist der Ausdruck der moralischen Pflicht. Für
Befürworter von Waffenlieferungen ist diese eng mit der Glaubhaftigkeit des Westens
verbunden, also vor allem damit, ob der Westen seinen Ankündigungen Taten folgen lässt
oder nicht. Der Ausdruck der moralischen Pflicht beschreibt kurz gesagt die Verpflichtung in
Kohärenz zu den eigenen Werten Außenpolitik zu betreiben: Deutschland vertritt Freiheit und
das Recht auf Selbstbestimmung, also ist es die moralische Pflicht von Deutschland
außenpolitisch diese Freiheit und Selbstbestimmung mittels Waffenlieferungen auch in der
Ukraine zu ermöglichen.
Der Begriff der Waffenlieferungen ist hier ebenfalls zentral. Man könnte sich lange über die
genaue Unterscheidung zwischen leichten und schweren Waffen streiten und deren
Wirksamkeit im Ukraine-Krieg diskutieren. In dieser Diskussion ist der Begriff der
Waffenlieferung allerdings eher symbolisch zu betrachten und fasst jegliche militärische
Unterstützung aus dem Westen in sich zusammen. Worüber sich ebenfalls gestritten werden

kann, sind die Begrifflichkeiten rund um Sieg oder Niederlage. Unter einem russischen Sieg
ist wohl am ehesten die teilweise oder vollständige Übernahme der Ukraine zu verstehen.
Behielte Russland die eroberten Gebiete von Donezk und Luhansk also auch nach Kriegsende
unter Kontrolle, wäre dies ein russischer Territorialgewinn, ergo ein Sieg. Von einem
ukrainischen Sieg, könnte wohl in Anbetracht ihrer neu erlittenen territorialen Verluste, nur
dann die Rede sein, wenn diese kürzlich verlorenen Gebiete wieder zurückerobert würden.
Alles andere wäre per Definition kein vollständiger Sieg, sondern ein erzwungener
Kompromiss. Welche Rolle in diesen Endszenarien zwischen Niederlage, Sieg oder
Kompromiss der Westen zu spielen hat, hängt nun vorwiegend von der Bereitschaft ab,
Waffen zu liefern.
Diese militärische Unterstützung sieht Precht, wie erwähnt, kritisch. Seine Ablehnung und die
aller anderen Waffen-Gegner, basiert sich auf zwei Behauptungen. Erstens:
Waffenlieferungen würden den Krieg verlängern. Laut Precht gäbe es mit weniger Waffen
demnach auch weniger Krieg. Doch das Ende dieses Krieges erhofft sich Precht, nicht nur
aus Mitleid mit den Opfern, sondern auch aus Furcht vor Putins steigender Bereitschaft,
Atomwaffen einzusetzen.. Die Zweite Behauptung Prechts lautet: Die Ukraine könne den
Krieg nicht gewinnen. Gegenstimmen meinen hingegen, die Ukraine hätte erst neulich grosse
Gebiete im Osten zurückerobern können, womit ein ukrainischer Sieg nicht mehr allzu
unwahrscheinlich wäre. Dieser Einschub ist wahr und widerlegt die Hauptprämisse von
Precht zu einem grossen Teil. Als sein Streitgespräch mit Lanz aufgezeichnet wurde, war das
noch nicht eingetroffen, aber mittlerweile gibt es ernsthafte Hoffnung auf einen Sieg der
Ukraine. Precht schliesst aus den beiden Prämissen, dass der Westen keine Waffen liefern
sollte.
Lanz vertritt wie die Mehrheit der Öffentlichkeit die Gegenposition. Zum einen hält er einen
ukrainischen Sieg nicht für unmöglich. Gleichzeitig hält er es unabhängig vom Kriegsausgang
für die moralische Pflicht des Westens, die Ukraine militärisch zu unterstützen, um die
eigenen Werte zu verteidigen. Weiter hält Waffenlieferungen Lanz auch abseits vom
gesinnungsethischen Aspekt für die rational betrachtet beste Entscheidung. Denn wenn sich
dieser Krieg für Putin auszahlen sollte, würde dies das Signal an Putin und andere Diktatoren
senden: Kriegstreiberei lohnt sich, da der Westen zu schwach ist, um sie daran zu hindern.
Besonders wegen diesem letzten Punkt erscheint ist Lanz´ Argumentation deutlich
schlüssiger. Denn es liefert auch eine Lösung zur allgemeinen Angst vor einer atomaren
Eskalation, die mit jedem weiteren Kriegstag steigt: Es mag zwar sein, dass Putin aus
Frustration über den Kriegsverlauf einen Atomschlag teilweise in Erwägung zieht. Wenn der
Westen in seiner moralischen Vorbildfunktion die Provokationen von Autokraten allerdings
nicht sofort verurteilt oder bekämpft, hat dies langfristig ein höheres Risiko einer atomaren
Eskalation, als wenn man ihnen gleich zu Beginn geschlossen entgegentritt. So hätte zum
Beispiel Xi Jinping Taiwan wohl schon lange angegriffen, wenn der Westen, insbesondere die
USA, nicht ständig seine Unterstützung für Taiwan und Ablehnung Chinas demonstriert hätte.
Angriffskriege von Autokraten dürfen sich niemals lohnen, heute nicht, in der Ukraine nicht
und auch morgen in Taiwan nicht.
Die Argumentation von Waffenlieferungs-Befürwortern lässt sich noch in einem Punkt
ergänzen. Die Annahme dass wir die Ukraine ohne die Waffenlieferung zu einem
Waffenstillstand mit weniger Verlusten bewegen würden ist zwar korrekt aber bedeutet auch,
dass wir aus unseren friedlichen vier Wänden darüber richten würden, ob die Ukrainer sich

verteidigen sollen oder nicht. Plakativ gesagt: Wir schreiben dem Familienvater in Donezk
vor, dass er und seine Familie gefälligst ihre Heimat zu verlassen haben, anstatt sie mit all
dem ihnen zustehenden Recht (und mit westlichen Waffen) zu verteidigen.
Prechts rationale Aufrechnung von weniger Kriegstoten und Kapitulation versus mehr
Kriegstote und Kriegsfortführung erscheint utilitaristisch betrachtet als absolut vertretbar. Wir
haben als Kriegs Unbeteiligte allerdings weder das Recht über den Zeitpunkt einer
ukrainischen Kapitulation zu entscheiden noch die Befugnis, dem Familienvater die Munition
gegen anrückende Russen zu verwehren. Ob der Familienvater sich dann entschliesst mit der
verfügbaren Munition sein Land zu verteidigen, oder sich lieber in Sicherheit bringt, liegt
ausserhalb unserer Kontrolle. Wichtig ist: Mit westlichen Waffenlieferungen lassen wir den
Ukrainern beide Möglichkeiten offen. Wir haben folglich die moralische Pflicht, Waffen in
die Ukraine zu liefern, auch deshalb, weil wir den Westen nicht als schwachen Hypokriten
erscheinen lassen wollen, sondern als ein glaubwürdiges moralisches Vorbild, auf dessen
Stärke auch in Krisenzeiten verlass ist.

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