Ich: Individuell

Eine Kollumne über die Tücken der Einzigartigkeit.

Eines der schwierigsten Dinge, die man als Jugendlicher meistern muss, ist, seinen Platz in der Welt zu finden. Wir alle kennen es, wir alle haben diese Selbstfindungsphase durchlebt oder stecken vielleicht sogar noch immer drin. Es ist nicht einfach, sich selbst zu definieren und dabei hat man vor allem eine grosse Sorge: dass man nichts Spezielles
ist.

In den letzten Jahren ist der Ausdruck ‘mainstream’ sehr populär geworden, die offizielle Worterklärung auf Google lautet «der Geschmack der meisten Menschen in einer Gesellschaft». Während es früher vielleicht als cool galt, zum Grossteil der Menschen in einer
Gesellschaft zu gehören, wird das heute eher als etwas negatives betrachtet. Niemand will mehr sein wie alle anderen, alle haben Angst, in einer Welt mit ca. acht Milliarden Menschen als Individuum unterzugehen. Aussagen wie «du bist anders als die Anderen» nehmen wir als Kompliment auf, weil wir uns dadurch speziell und auch unentbehrlich fühlen, was ja auch verständlich ist.

Aber meiner Meinung nach konzentrieren wir uns zu sehr darauf, bereits auf den ersten Blick anders zu wirken.

Und das ist in unserer Zeit schwer. Farbige Haare, Piercings, schrille Kleidung, das ist alles schon mal dagewesen. Es gibt keinen Look, den nicht schon einmal jemand getragen hat. Ich nehme jetzt mal mich selbst als Beispiel. Wenn man mich an der Busstation stehen sehen würde, hätte man folgendes Bild: Converse, Hard Rock Cafe T-Shirt, grüne Frühlingsjacke, Jutebeutel mit einem Spruch darauf, in der einen Hand ein Buch, in der anderen einen Kaffeebecher, überteuerte
Apple-Kopfhörer in den Ohren. Nichts Spezielles, in der Stadt laufen wahrscheinlich hundert andere Menschen genau gleich rum. Aber das muss nicht automatisch etwas Schlechtes sein. Das bedeutet nicht, dass ich genau gleich bin, wie diese hundert anderen Leute.

Jeder Mensch ist auf seine eigene Art individuell, aber bei den meisten muss man die Person zuerst näher kennenlernen, um das zu entdecken.

Man sieht jemandem die Individualität nicht an, sie liegt im
Charakter. Und ich glaube, davor haben die Leute Angst. Sie befürchten, dass sich niemand mehr die Zeit nimmt, sie genug kennenzulernen. Aber genau das macht es ja auch so interessant, neue Menschen zu treffen. Es ist spannend, mit einer neuen Bekanntschaft zu reden und Interessen zu entdecken, die man dieser Person auf
den ersten Blick nie zugetraut hätte.

Das Problem sind, wie so oft, unsere guten alten Vorurteile. Wenn wir uns angewöhnen würden, Leute nicht auf den ersten Blick in eine Schublade zu stecken, müssen wir auch keine Angst mehr haben, dass andere das Gleiche mit uns machen und wir können aufhören, so viel Arbeit hineinzustecken, unsere Individualität hervorzuheben.

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