Let’s Talk About Sex, Baby!

Das ist Vithika Yadavs Arbeitsmotto: Mit ihrer 2011 gegründeten Website Love Matters setzt sich die Inderin für die sexuellen Rechte von Jugendlichen ein – trotz und gerade wegen der konservativen Gesellschaft Indiens. Als eine der fünf Protagonistinnen des Dokumentarfilms #Female Pleasure, der letztes Jahr für Furore sorgte, ist sie nun einem breiten Publikum bekannt geworden. Ich traf Vithika im Rahmen einer Filmvorführung von #Female Pleasure in Basel und sprach mit ihr über kulturelle Unterschiede, den Umgang mit Andersdenkenden, die Rolle von Männern und Frauen und natürlich Sex.

Das ist Vithika Yadavs Arbeitsmotto: Mit ihrer 2011 gegründeten Website Love Matters setzt sich die Inderin für die sexuellen Rechte von Jugendlichen ein – trotz und gerade wegen der konservativen Gesellschaft Indiens. Als eine der fünf Protagonistinnen des Dokumentarfilms #Female Pleasure, der letztes Jahr für Furore sorgte, ist sie nun einem breiten Publikum bekannt geworden. Ich traf Vithika im Rahmen einer Filmvorführung von #Female Pleasure in Basel und sprach mit ihr über kulturelle Unterschiede, den Umgang mit Andersdenkenden, die Rolle von Männern und Frauen und natürlich Sex.

Vithika Yadav, worum geht es bei Love Matters?

Love Matters ist Indiens erste digitale Plattform für Jugendliche, die das Thema Sex auf eine offene, vorurteilslose und ehrliche Art behandelt. Wir sind der Lust gegenüber positiv eingestellt und für alle jungen Menschen da, egal welcher Ethnie, Geschlecht oder sexueller Orientierung sie zugehörig sind. In Indien ist Sex ein absolutes Tabu – wie in vielen anderen Kulturen. Trotzdem sind Jugendliche natürlich neugierig und durch das Internet hat sich ihnen eine ganz neue Informationsquelle ergeben, durch die sie

Konversationen mit den Eltern vermeiden können. Doch wenn sie Suchbegriffe wie „Erstes Mal“ oder „Wie hat man tollen Sex?“ ins Suchfeld eingeben, erhalten sie als Ergebnis meistens realitätsferne Informationen. Wir fanden heraus, dass 90% der Jugendlichen ihr Wissen über Sex durch Pornographie erlangt haben. Leider ist das Bild, dass sie dadurch von Sex bekommen, grösstenteils unrealistisch, unwissenschaftlich, häufig sehr frauenfeindlich und bekräftigt patriarchale Strukturen. Love Matters soll die alternative digitale Plattform sein, wo Jugendliche mit den gleichen Schlagworten faktenbasierte, glaubwürdige und lustpositive Information finden und die Tatsache akzeptiert wird, dass sie tollen Sex wollen. Wir sollten uns dieser Tatsache wegen nicht schämen, sondern sie zelebrieren.

Love Matters ist Indiens erste digitale Plattform für Jugendliche, die das Thema Sex auf eine offene, vorurteilslose und ehrliche Art behandelt.

Welche Reaktionen habt ihr auf die Webseite bekommen?

Wir veröffentlichten 2011 die englische und die Hindi-Website im Abstand von ca. 5 Monaten. Die Reaktionen waren überraschenderweise beide Male sehr positiv, obwohl wir ja schädliche Gesellschaftsnormen infrage stellten. Das würde selbstverständlich einigen Leuten missfallen, dessen waren wir uns sehr bewusst. Als Love Matters dann mehr Aufmerksamkeit bekam, hörten wir auch Gegenstimmen wie: „Eure Website ist gegen die indische Kultur!“ oder „Wir brauchen keinen Aufklärungsunterricht!“ Doch selbst das fühlt sich für mich wie ein Erfolg an, weil sich Leute dazu gezwungen sehen, sich mit den sozialen Normen auseinandersetzen. Denn wenn sich niemand angegriffen fühlte, hätte unsere Arbeit keine Wirkung erzielt.

Wie suchst du das Gespräch mit Menschen, die völlig anders denken?

Ganz zentral dabei ist es, niemanden zu verurteilen. Egal wie befremdend man die Fragen findet, ist es doch ein Anfang, dass Andersdenkende sich überhaupt mit den Themen auseinandersetzen. In der Kommunikation mit völlig Andersdenkenden liegt die wahre Herausforderung. Doch wir sind alle Teil des gleichen Systems. Auch mir wurde meine heutige Auffassung nicht angeboren. Früher war auch ich voreingenommen in all diesen Fragen, da ich in einer Kultur aufwuchs, die das so verlangte. Erst durch Bildung konnte ich die Zusammenhänge sehen und ein tieferes, rationales Verständnis von den Problemen bekommen. Diese Erkenntnis ist für alle eine grosse Reise und deshalb habe ich nicht das Recht, andere für ihre Aussagen und Fragen zu verurteilen, auch wenn ich sie absurd finde. Leider hat die Non-Profit- Welt häufig solche Tendenzen, da wir uns den ganzen Tag mit unseren Themen befassen und das Gefühl bekommen, wir, die Non-Profit-Leute, wüssten alles. Aber wenn du dich nie mit sexuellen Rechten auseinandergesetzt hast – natürlich hast du dann keine Ahnung, denn das System bringt es dir ja nicht bei. Die Herausforderung der Non-Profit-Welt liegt darin, niemanden für seine Unwissenheit zu verurteilen, sondern einen Platz für alle zu schaffen.

Wir sollten die Tatsache zelebrieren, dass wir alle tollen Sex haben wollen.

Es gibt nun auch Ableger von Love Matters in Südamerika, Kenia, China und dem Nahen Osten: Unterscheiden sich die Fragen und der Inhalt der Webseiten von Kultur zu Kultur?

Ja definitiv. Überall gibt es unterschiedliche Probleme: Ein Thema kann in der einen Kultur sehr heikel sein, während es in einer anderen fast keine Beachtung findet. Die Gemeinsamkeit der Regionen liegt darin, dass es überall schwierig ist, an verlässliche Informationen zu gelangen. Wir fingen an zu expandieren, da wir bemerkten, dass das Bedürfnis danach bestand. Jede unserer lokalen Websites wird von Einheimischen geführt, welche die Website aufgrund von lokalen Studien betreiben und natürlich die Fragen beantworten. Der Inhalt ist also sehr regional, die Philosophie und die Werte bleiben aber immer die gleichen.

Kannst du uns Beispiele für die regionalen Unterschiede geben?

In Lateinamerika spricht man viel offener über Sex als beispielsweise in Indien, hingegen ist dort sichere und legale Abtreibung ein äusserst heikles Thema, da sehr starke Emotionen hervorgerufen werden. In Kenya ist es fast unmöglich über LGBTQ-Themen zu sprechen. In Ägypten werden bei 87% der Frauen und Mädchen die Genitalien verstümmelt. Gerade bei einem religiös sensiblen Thema kommt es bei unserer Arbeit sehr darauf an, wer was sagt. Das Wort eines Arztes hat da eine ganz andere Wirkung als das einer Non-Profit-Aktivistin. In China wurde die Website mehrere Male vom Netz genommen wegen der Zensur. Da es dort auch kein Facebook gibt, benutzen wir andere Plattformen. Jeder Kulturkreis bringt also neue Herausforderungen mit sich, aber überall wo wir operieren, haben wir grosse Fortschritte gesehen. Die Gespräche im Onlinebereich haben sich stark verändert.

Welche Leute erreicht ihr durch Love Matters?

nsere Zielgruppe bei Love Matters India sind junge Leute – im indischen Kontext 18 bis 24-jährige. Natürlich arbeiten wir auch spezifisch mit Jugendlichen zusammen, doch aus rechtlichen Gründen müssen wir 18 als Mindestalter angeben.

Interessanterweise sind 70% der Besucher unserer Webseite männlich. Es sind vor allem Männer, die all die Fragen um Jungfräulichkeit und das Hymen stellen. Das ist der Moment, wo wir mit Rückfragen beginnen: Warum beschäftigt dich die Jungfräulichkeit eines Mädchens so sehr? Wie würdest du dich fühlen, wenn dich jemand aufgrund deiner früheren Beziehungen verurteilte? Jungfräulichkeit ist ein patriarchales Konstrukt, um die Sexualität von Mädchen und Frauen zu kontrollieren und Macht auszuüben. Denn die Jungfräulichkeit gibt keine Aussage über den Charakter einer Person.

Jungfräulichkeit ist ein patriarchales Konstrukt, um die Sexualität von Mädchen und Frauen zu kontrollieren und Macht auszuüben. Denn die Jungfräulichkeit gibt keine Aussage über den Charakter einer Person.

Du hast einen achtjährigen Sohn. Wie beeinflusst deine Arbeit die Erziehung deines Kindes?

Sehr stark! Als wir mit Love Matters begannen, hatte ich gerade meinen Sohn geboren. Alles, was ich tue, spiegelt sich an irgendeinem Punkt in der Erziehung meines Sohnes wieder:Meine Arbeit, meine Werte, was ich über Gleichberechtigung und Gendernormen denke, die Tatsache, dass wir uns bei uns zuhause dieser Themen sehr bewusst sind. Er sieht in seiner Kindheit, dass seine Mom genauso arbeiten geht wie sein Daddy, dass wir uns die Haushaltspflichten teilen und wir beide unabhängig sind: Dass es keinen Unterschied gibt. Wir führen auch Gespräche mit ihm über persönliche Grenzen und Respekt und halten ihn dazu an, Fragen ohne Scham zu stellen. Unsere Hoffnung ist, dass aufgrund seiner Erfahrungen in der Kindheit sein Verständnis von Rollenbildern anders sein wird. Dass es für einen Mann cool ist zu kochen oder ein Hausmann zu sein. Meiner Meinung nach wird heutzutage viel zu wenig über die progressiven Beispiele von Männlichkeit gesprochen, es sind die schlimmen Geschichten, die die Medien prägen und wenn man etwas immer wieder hört, hält man es irgendwann für die Wahrheit. Wenn wir andere, positive Geschichten in die Köpfe der Menschen bekommen, wird sich die Gesellschaft ändern. Doch momentan lautet das vorherrschende, patriarchale Narrativ für Männer, dass es cool ist, ein Missbraucher zu sein, denn das ist es, was dir die Gesellschaft und die Medien beibringen.

Kann man überhaupt abschliessend definieren, was Männlichkeit und Weiblichkeit bedeuten?

Jeder hat dazu eine sehr persönliche Definition. Selbst in der Welt des Feminismus ist man sich uneinig. Meiner Meinung nach verlieren wir uns in den Definitionen von diesen Begriffen. Jede und jeder sollte die Möglichkeit haben, das hineinzuinterpretieren, was er oder sie will. Gleichzeitig dürfen wir gewisse Basics nicht aus den Augen verlieren: Wenn wir von Männlichkeit und Weiblichkeit sprechen, dürfen wir den Einfluss des Patriarchats nicht vergessen. Selbst wenn du dich selbst nicht mit “toxischer Männlichkeit” identifizierst, musst du den Fakt anerkennen, dass du in deiner Gesellschaft solchen Einflüssen ausgesetzt bist und dass es dieses Problem gibt. Unsere Vorstellung von Männlichkeit muss sich drastisch ändern, da gewisse Menschen sie mit “toxischer Männlichkeit” gleichsetzen, was natürlich völliger Unsinn ist. Alles kann neu definiert werden. Ich wünsche mir für die Zukunft, dass man in seinem Auftreten männlich sein kann, aber einem trotzdem kein Label angehängt wird, welches einem vorschreibt, wie man sonst zu leben hat. Solche Labels betreffen natürlich auch Frauen, besonders Mütter. Wie oft musste ich mir anhören, dass mein armes Kind mich wohl stark vermissen müsse, da ich beruflich viel unterwegs bin. Ja, mein Kind vermisst mich, aber wie oft wurde meinem Mann, der auch viel reist, diese Frage gestellt? Wir müssen diese Labels hinter uns lassen und anfangen, darüber zu sprechen.

Info: Toxic Masculinity

“Toxic masculinity” (zu deutsch: “giftige Männlichkeit”) ist ein Begriff aus der Soziologie und Geschlechterforschung, der im medialen Diskurs über Männlichkeit besondere Beachtung fand. “Toxic Masculinity” beschreibt gewisse kulturelle Männlichkeitsnormen, die sowohl für Männer selbst als auch für die restliche Gesellschaft “giftig” sein können.Gemeint ist damit das traditionell patriarchale Stereotyp des sozial dominanten, frauenfeindlichen und homophoben Mannes, mit dem häufig eine Normalisierung von Gewalt (“So sind Männer nun einmal”) sowie die Unterdrückung der eigenen Emotionen (“Jungs weinen nicht”) einhergeht. Der Begriff wird für seine Polemik kritisiert, da er sprachlich nahelegt, jegliches männliche Verhalten sei grundsätzlich “giftig”. Tatsächlich wird die Männlichkeit an sich nicht kritisiert, sondern besonders aggressives und repressives Verhalten.

Filme wie Female Pleasure tragen zu diesen Dialogen bei, aber als ich ihn im Kino sah, war kein einziger Mann im Saal.

Es muss noch viel Arbeit getan werden. Viele Männer fühlen sich durch das „Female“ im Titel abgeschreckt, doch die, die den Film gesehen haben, fanden seine Message unglaublich wichtig und waren überrascht, dass sich der Film gar nicht gegen Männer richtete.

Info: #Female Pleasure

Fünf Frauen aus fünf Weltreligionen stehen im Dokumentarfilm #Female Pleasure im Zentrum, die eines verbindet: Den Kampf für die Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und gegen das Verteufeln von weiblicher Sexualität. Vithika Yadav, Leyla Hussein, Doris Wagner, Deborah Feldman und Rokudenashiko lehnen sich gegen die vorherrschenden patriarchalen Gesellschaftsstrukturen auf und zahlen dafür einen hohen Preis.

Woher kommt diese Angst vor dem Weiblichen?

Diese Angst ist stark in patriarchalen Strukturen verwurzelt. Schau dir die Wirtschaft und Politik an: Überall herrscht diese Angst, die Frauen würden die Macht übernehmen und Männer unterdrücken. Manche Männer fühlen sich von feministischen Bewegungen bedroht, weil man sie in gewissen Diskussionen aussen vor gelassen hat, anstatt sie zu integrieren. Das liegt natürlich auch daran, wie die Frauenbewegung historisch gewachsen ist. Doch solche Bewegungen funktionieren nur, wenn man alle einbezieht. Erst wenn man Männern klarmacht, dass “toxische Männlichkeit” angelerntes Verhalten ist und man es umlernen kann, verstehen sie, dass auch sie – wie Frauen – unter dem Patriarchat leiden. Wie viele Männer wurden schon gefragt, wie sie sich unter diesem ganzen Druck von “toxischer Männlichkeit” fühlen? Wie viele Männer wollten in einer Situation weinen, aber konnten es aufgrund sozialer Erwartungen nicht? Diese Realitäten zu erkennen und die Empathie aller dafür zu stärken, darin liegt der Schlüssel, dass sich auch Männer für die Gleichberechtigung einsetzen. Persönlich finde ich es schade, dass sich so viele Männer ausgegrenzt von den feministischen Bewegungen fühlen. Warum können wir nicht einfach mit allen über Gleichstellung von allen reden?

Erst wenn man Männern klarmacht, dass “toxische Männlichkeit” angelerntes Verhalten ist und man es umlernen kann, verstehen sie, dass auch sie - wie Frauen - unter dem Patriarchat leiden.

Diese Realitäten zu erkennen und die Empathie aller dafür zu stärken, darin liegt der Schlüssel, dass sich auch Männer für die Gleichberechtigung einsetzen. Persönlich finde ich es schade, dass sich so viele Männer ausgegrenzt von den feministischen Bewegungen fühlen. Warum können wir nicht einfach mit allen über Gleichstellung von allen reden?

Du habst schon sehr viel in deinem Leben erreicht, hast für eine Anti- Menschenhandel-Organisation gearbeitet, zahlreiche Preise bekommen und die erfolgreichste Aufklärungswebsite der Welt gegründet. Auf welche deiner Leistungen bist du am stolzesten?

(überlegt) Ich bin stolz darauf, dass Projekte, in denen ich involviert bin, die Stille um die schwierigsten Tabus brechen. Ich bin extrem glücklich, dass ich an diesem Anfangspunkt dabei sein durfte und dass es wirklich möglich ist, etwas zu verändern. Als wir 2011 starteten, war die Sache extrem kontrovers und 2019 wird die sexuelle Lust zelebriert. Die Welt beginnt sich zu öffnen und das ist eine richtige Leistung.

Welchen Tipp würdest du jungen Menschen geben, die sich für Arbeit im Non-Profit-Sektor interessieren?

Eigentlich wünsche ich mir für die Zukunft, dass Non-Profit-Themen sich nicht nur auf die Non-Profit-Organisationen beschränken. Selbst wenn du eine Ingenieurin, ein Arzt oder eine Filmemacherin bist – überall hast du die Chance, die Gesellschaft zu ändern und dich für Menschenrechte einzusetzen: Wenn du in einer grossen Firma arbeitest, setz dich dafür ein, dass es in der Wertschöpfungskette keine Zwangs- oder Kinderarbeit gibt, etc. Schaut die Welt um euch herum an und seid kritisch: Was ist gut? Was ist schlecht? Seid mutig, habt eine Vision und lebt sie. Lasst eure Stimme und eure Arbeit zählen. Allen jungen Leuten sage ich: Kommt zu Love Matters, denn solche Projekte können nur funktionieren, wenn sie von der nächsten Generation weitergetragen werden. Und erinnert euch immer daran: Als junge Leute habt ihr das Recht, die Dinge zu ändern, die in Stein gemeisselt scheinen.

Vithika Yadav, danke für das Gespräch!

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