Illustration: Hanna Weber

Nachtzug

Flüge innerhalb Europas werden verpönter und kommen im Umfeld immer schlechter an. Das Wort “Flugscham” schaffte es 2019 sogar den Ehrentitel „Wort des Jahres“ zu erhalten. Das hat auch einen berechtigten Grund, denn wollen wir bei der Erwärmung des Klimas nicht über 1.5° C Grad kommen, liegen Kurzstreckenflüge nicht mehr drin. Der gerade veröffentlichte Climate Action Plan, welcher von Climatestrike Switzerland initiiert, ausgearbeitet und von vielen Experten unterstützt wurde, würde diese Reisemöglichkeit sogar gesetzlich untersagen. Was geschieht also mit den Wochenendtrips nach Berlin und anderen Destinationen?

Der Nachtzug ist die Lösung!
Vor ein paar Jahren war es noch ein Nischengeschäft, dessen Service immer weiter heruntergefahren wurde. Heute wird das Schienennetz ausgebaut, das Angebot verdichtet und die Nachtzüge der ÖBB (Österreichische Bundesbahn) sollen komplett renoviert werden. Nachdem die Deutsche Bahn 2017 ihren Nachtzugbetrieb komplett eingestellt hatte – die SBB hatte sich schon 2010 davon verabschiedet – übernahm die ÖBB viele der Verbindungen und baute diese aus. Durch ihr Engagement und der gezielten Werbung konnte das Image des Nachtzuges wieder aufgebessert werden. Zu Recht! Ich bin selber schon mit dem Nachtzug nach Wien gefahren und kann nur begeistert davon berichten. Wir stiegen um 21:40 Uhr in Zürich ein, gingen in unseren Schlafwagen für zwei und richteten uns auf den 5 Quadratmetern ein. Viel Platz ist es nicht, aber die Betten sind gross genug und es hat einen kleinen Stauschrank sowie ein eigenes Waschbecken. Liegt man oben im Stockbett, kann man beim Einschlafen die Sterne durch das Dachfenster sehen.

Zwei Toiletten sind auf dem Gang und werden mit anderen Kabinen geteilt, was aber der Hygiene, zu meiner Überraschung, nichts anhatte. Bevor ich mich im seichten Ruckeln des Zuges schlafen legte, kam der Schaffner und nahm meine Frühstückswünsche entgegen. Um 7:00 Uhr wurde ich dann freundlich mit einem Frühstückstablett geweckt. Die Brötchen waren entgegen meinen Erwartungen sehr lecker, der Joghurt und die Marmelade bio und nur der Kaffeebecher Einweggeschirr. Um 8:10 Uhr fuhren wir pünktlich in den Hauptbahnhof in Wien ein. Der Tag konnte beginnen.

Bevor ich mich im seichten Ruckeln des Zuges schlafen legte, kam der Schaffner und nahm meine Frühstückswünsche entgegen.

Von Zürich aus kann man mit dem Nachtzug viele Städte erreichen, unter anderem Berlin und Prag. Ab Dezember 2021 dann auch Amsterdam und für 2024 sind direkte Verbindungen nach Barcelona und Rom vorgesehen. Somit könnte das Sonnenwochenende ökologisch und finanzierbar sein. Die Reise mit dem Zug ist nämlich nicht nur sehr viel klimafreundlicher, da sie ein Zehntel des CO2-Austosses eines Fluges verursacht, – ÖBB-Chef Andreas Matthä spricht von einem Dreissigstel – sondern spart eine zusätzliche Nacht im Hotel und man kann schon früh morgens mit vollem Magen die Stadt erkunden. Doch das Reisen mit dem Nachtzug kann mit den Preisen des Fliegens nicht ganz mithalten. Während ein Flug plus eine Nacht im Hostel mit Frühstück ab 93 Franken möglich ist, kostet Freitags die Nacht im NightJet selten unter 160 Franken. Gerade für uns Schülerinnen und Schüler sind diese 70 Franken Differenz nicht leicht zu ignorieren. Es gibt eine direkte Korrelation zwischen Strecken der Billigfluggesellschaften und Nachtzuglinien. Dort wo es die einen gibt, kommen die anderen nicht an. Aus einem einfachen Grund: der Preis.

Ab Dezember 2021 dann auch Amsterdam und für 2024 sind direkte Verbindungen nach Barcelona und Rom vorgesehen.

Wir schreiben das Jahr 2052. Flughäfen gehören nun zum Weltkulturerbe und werden als sogenannte Nachhaltigkeitszentren genutzt. Vor zwei Jahren haben wir es auf der ganzen Welt geschafft CO2-neutral zu werden. Der Verkehr verläuft inzwischen komplett über die Schienen, mit grossem Erfolg. Nachdem die EU 2021 das „Jahr der Schienen“ einläutete, kam der Zug richtig ins Rollen. Viel Geld wurde in Pro-(Nacht)Zug Initiativen gesteckt. Darunter waren Subventionen, welche die Preise der Bahntickets senkten, Investitionen in die Innenausstattung der Züge und den Service, sowie der Ausbau des Streckennetzes. Der Aufschrei aus der liberalen Ecke war gewaltig. Wie man so viele Hundert Millionen ohne einen absehbaren ROI (Return on Investment) ausgeben könne!?

Wir schreiben das Jahr 2052. Flughäfen gehören nun zum Weltkulturerbe und werden als sogenannte Nachhaltigkeitszentren genutzt.

Die Politik blieb still auf ihrem Kurs und investierte weiter. 2028 kam sogar der Hochgeschwindigkeitszug von Madrid nach London, der die Fahrgäste bequem in 12 Stunden über Nacht von Süden nach Norden brachte. Die 15 Nachtzuganbieter in Europa fingen an, mehr und mehr zusammenarbeiten, sodass man bald innerhalb einer Nacht und eines halben Tages von Athen nach Stockholm reisen konnte. Durch bessere Infrastruktur und attraktiven Service, sowie die schnelleren Verbindungen wurde der Zug immer beliebter bei den Leuten. Die durch den Staat gesenkten Preise ermöglichten es einem breiteren Teil der Gesellschaft klimafreundlich zu reisen. Der Ansturm auf die Nachtzüge wurde immer grösser, sodass, sogar die Autoindustrie Aktien der Nachtzug-Betreiber besass. Aus der wirtschaftsliberalen Ecke hatte man schon lange nichts mehr zu dem Thema gehört, man munkelte sogar sie seien selbst Investoren des Nachtzug-Geschäfts geworden. Die Regierung hat nun schon seit 15 Jahren keinen Cent mehr an Subventionszahlungen getätigt und freut sich über hohe Steuereinnahmen der Bahnunternehmen. Ein bisschen ist der Boom vielleicht auch der Coronakrise vor 32 Jahren zuzuschreiben. Nachdem man praktisch ein Jahr zu Hause sass, wollten alle wieder die Welt entdecken und besichtigen. Die Reiselust war explodiert und durch das Angebot des Nachtzuges ging es eben auch ohne Flugscham.

Übrigens, hier die wahre Vorlage für mein Zukunftsszenario. 1852 fuhr der Nachtzug das erste Mal in Preussen und wurde damals per Gesetz eingeführt. Politische Motive der Einflussnahme auf Privatbahnen waren der Grund. Die Betreiber wehrten sich anfangs dagegen, der Staat solle sich aus der Privatwirtschaft heraushalten. Die Strafzölle waren jedoch zu hoch und so beugten sie sich widerwillig. Bis die Privatbahnen auf einmal merkten, wie rentabel dieses Geschäftsfeld des Personenverkehrs war.

Vielleicht hat der Staat ja manchmal doch gute Ideen, die für die Wirtschaft und die Gesellschaft ein Gewinn sind.

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