Illustration: Olivia Grey

Reise in die literarische Welt von J.R.R. Tolkien

Auf den ersten Blick scheint es klar; Reisen bedeutet von Zuhause wegzugehen, fremde Länder und Kulturen kennenzulernen und weite Strecken zurückzulegen. Doch manchmal geht Reisen auch von zuhause aus, mit einer heißen Tasse Tee und einem guten Buch. Die Rede ist hier natürlich vom Lesen. Ebenjenes Medium, das uns während der Schulzeit durch Zeitdruck und aufgezwungene Inhalte vergrault wurde, soll sich plötzlich wie Reisen anfühlen können? Auf jeden Fall! Und mit den richtigen Büchern sogar noch viel mehr als das. Mit den richtigen Büchern entdeckt man neue Welten und Kulturen und fühlt sich als Teil eines mit- reissenden Abenteuers.

Doch was sind die richtigen Bücher, könnte man sich an dieser Stelle fragen. Die Antwort darauf ist, wie so häufig, unbefriedigend; es hängt vom Geschmack ab. Für mich funktioniert in dieser Hinsicht kein Buch so gut, wie die berühmte «Der Herr der Ringe»-Saga. Die Handlung ist dabei simpel gestrickt: Ein uralter Ring muss von den Hobbits und ihren Reisegefährten in einem Vulkan vernichtet werden, um die Macht des dunklen Herrschers Sauron zu beenden und Mittelerde zu retten. Das Besondere an diesem Buch ist aber nicht die Handlung, sondern die facettenreiche Welt, durch die wir während der Handlung hindurchreisen. Der Autor dieses Werks hat aber noch viel mehr erschaffen, als nur dieses Buch, und ist heute noch in aller Munde; John Ronald Reuel Tolkien.

Während seines gesamten Lebens von 1892 bis 1973 schuf der britische Philologe (Sprachwissenschaftler) für Altenglisch eine Mythologie, die heute noch eine unangefochtene Vormachtstellung in der Fantasy-Literatur einnimmt. Ein Legendarium, von dem «Der Herr Der Ringe» nur die Spitze eines gewaltigen Eisbergs bildet. Dabei fällt einem vor allem immer wieder auf, wie gigantisch die Welt ist, durch die wir unsere Helden auf ihrer Reise begleiten.

Ein Legendarium, von dem «Der Herr Der Ringe» nur die Spitze eines gewaltigen Eisbergs bildet.

Die erste Voraussetzung für eine solch einzigartige Authentizität, wie sie in Tolkiens Welt zu finden ist, ist eine detaillierte Geographie. Erst in einer geografisch genau ausgearbeiteten Welt können wir uns als Leser zurechtfinden und diese als eine sekundäre Realität akzeptieren. Tatsächlich ist die Landschaft so stark ausgearbeitet, dass sich in der Sekundärliteratur zu Mittelerde authentische, geomorphologische Prozesse beschrieben finden. Aus der Sicht der Hobbits erzählt, ist «Der Herr der Ringe» nämlich auch eine Entdeckungsreise durch die verschiedenen Länder von Mittelerde, eine Reise von der Geografie geprägt. Diese Liebe zum Detail lässt sich aber nicht etwa mit einer Liebe des Professors zur Kartographie erklären, sondern mit Tolkiens prägender Liebe zur Natur.

Aus der Sicht der Hobbits erzählt, ist «Der Herr der Ringe» nämlich auch eine Entdeckungsreise durch die verschiedenen Länder von Mittelerde, eine Reise von der Geografie geprägt.

Vielen heutigen Lesern fallen die ausschweifenden Landschaftsbeschreibungen in «Der Herr der Ringe» negativ auf. Doch genau diese Passagen lassen erst zu, dass man sich die Welt genau vorstellen kann. Es ist sehr wohl von Bedeutung, wie das Heideland von Ost Rohan riecht oder welche Blumensorte in Ithilien wächst; es schafft das Umfeld für eine echte Reise in einer echten Welt. Eine Reise als wäre man selbst dabei.

Die zweite und wichtigste Voraussetzung, die für eine authentische Welt unverzichtbar ist, ist eine stützende Vorgeschichte. Eine Welt mit einer reichen Geschichte hat Charakter und verleiht ihr die notwendige Tiefe. So auch Tolkiens Sicht auf den Erfolg seines Buchs: “Part of the attraction of [The Lord of the Rings] is, I think, glimpses of a large history in the background.” Erst die zahlreichen Hinweise auf eine epische Vorgeschichte in Tolkiens Hauptwerken verleiht den geografischen Gegebenheiten, Ländern, Städten und Völkern den nötigen Charakter, um den Leser in die Welt hineinzuziehen.

“Part of the attraction of [The Lord of the Rings] is, I think, glimpses of a large history in the background.” - J.R.R. Tolkien

Diese gewaltige geschichtliche Tiefe rührt zum einen daher, dass der Professor ursprünglich eine Mythologie für England erschaffen wollte und sich erst nach und nach von diesem doch sehr ehrgeizigen Ziel abwandte. In diesem Schreibprozess sind jedoch Jahrtausende an Geschichte entstanden, die schließlich im «Der Herr der Ringe» Kosmos Platz fanden. Zum anderen hatte Tolkien als leidenschaftlicher Philologe früh eine Vielzahl an Sprachen erfunden und dann erst die Völker, um seine Welt mit diesen Sprachen zu beleben. Dass die Welt zuerst vorhanden war und nicht die Buchidee, trägt weiter zur Authentizität und der Echtheit seiner Welt in den Geschichten bei.

Wenn diese beiden Voraussetzungen erfüllt sind, ist ein Eintauchen in diesen Kosmos möglich. Ist man erstmal eingetaucht und hat diese Welt als realistische akzep- tiert (dazu Voraussetzung eins und zwei), kann man neue Länder bereisen und mit den Helden gemeinsam ein neues Universum entdecken, eine Welt, die sich wie ein gewaltiges Puzzle aus den Buchseiten zusammen- setzt.

Eine weitere Gemeinsamkeit mit dem Reisen fällt während des Lesens sofort auf: Ein Gefühl tiefer Entspannung. Wie im Urlaub kann man auf der Reise zu neuen Orten das Gehirn völlig entspannen und versinkt in einem meditationsähnlichen Zustand. Entscheidend hierbei ist, dass einem nach Beenden des Lesens dieses Gefühl erhalten bleibt. Völlig anders also als das Prokrastinieren mit dem Smartphone oder Videospielen, bei welchem man häufig schon währenddessen Schuldgefühle empfindet und nach Beenden des digitalen Zeitvertreibs meist ein unbefriedigendes Gefühl empfindet, da man nicht ganz alle Level durchgespielt hat. Das Lesen eines Buchs kann sich also genau wie eine echte Reise anfühlen. Dabei kann man wie im Urlaub tief entspannen und in der Fantasiewelt neue Länder und Völker kennenlernen. Die zwei Voraussetzungen, die eine authentische Welt ermöglichen, geographische und geschichtliche Tiefe, sind besonders in Tolkiens Welt stark ausgeprägt. Doch können nicht nur Tolkiens Bücher ein Reiseerlebnis hervorrufen. Es gibt viele andere Bücher, viele andere Welten, die es zu ent- decken gilt. Was zählt ist nur der Spass entlang des Wegs, das Erlebnis während der Reise.

Illustration: Filomena Gallay

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