Symbolbild. Grafik: Claudio Rinaldi

Territorien, Staaten und die Zugehörigkeit

Über die Idee eines Striches auf einer Karte und über ein Stück Papier, das bestimmt, ob du das Recht zur Mitbestimmung hast.

Ein Hund hebt sein Bein und markiert sein Revier – wir Menschen platzieren Grenzsteine und ziehen Striche auf einer Karte. Denn so wollen wir zeigen:

Das gehört uns! Dieses Verhalten haben wir in den vergangenen Jahrhunderten regelrecht zelebriert und genauso sind wir noch heute davon besessen, unseren Besitz zu kennzeichnen. Sei es ein Salatkopf im Garten, das Grundstück eines Hauses oder ein 41’285 km2 grosser Staat – wir alle scheinen der Meinung zu sein, dass die Welt jemandem gehört, und im besten Fall bist Du diese Person.

1755 schrieb Jean-Jacques Rousseau am Anfang seines zweiten Buches über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen liess zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte:

“Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.“

Diese dunkle Darstellung der Geschichte des Besitztums ist deprimierend und erschreckend – unter anderem darum, weil sie so nah an der Wahrheit liegt. Wäre der Mensch nicht dem Konzept des «Besitzens» verfallen, so wäre jeder Eroberungskrieg und jede Territorialstreitigkeit sinnlos. Doch die mehr als 120 Gebietsstreitigkeiten überall auf der Erde weisen uns scharf auf die Realität hin. Sei es der Krieg im Sudan, die Abspaltung Schottlands von Grossbritannien oder die Diskussion zwischen der Schweiz und Deutschland über den Verlauf der Grenze durch den Bodensee – diese globalen Konflikte stehen alle in Bezug auf das Ziehen von Staatsgrenzen.

Wieso trennen wir Menschen uns nicht von diesem abstrakten Konzept von Territorien und Staaten und lassen die Grenzen hinter uns?

Die Abgrenzung von Nationen und Territorien ist viel mehr als nur die geographische Unterteilung der Welt in kleinere Stücke – es ist die einfachste Möglichkeit, die Frage nach der Verantwortung und Zuständigkeit zu klären: Wer kommt für dich auf, wenn du arbeitslos bist und wer muss dir nach der Pensionierung die Rente bezahlen? Oder im Gegenzug: An wen musst du deine Steuern abgeben? Mithilfe von Grenzen können klare Abtrennungen gezogen werden, Menschen werden ein- und ausgegrenzt und so entsteht eine Bevölkerungsgruppe, die für «ihren» Staat verantwortlich ist. Dieser sollte im Gegenzug für das Wohl seiner Bürger sorgen und in einer Demokratie entscheidet die Bevölkerung, wie und von wem der Staat geleitet werden soll. Um in diese Entscheidung einbezogen zu werden, muss man jedoch ein weiteres Kriterium erfüllen: Die Staatsangehörigkeit. Ein Konzept, dass in dieser Form erst seit dem 1. Weltkrieg grosse Wichtigkeit erlangt hat, da nun plötzlich die Frage aufkam, wer Freund und wer Feind ist. Zuvorwaren die Menschen Ihren Dörfern verpflichtet, die sie kaum verliessen, doch nun musste geklärt werden, für welche Armee sie in den Kampf ziehen mussten.

Doch die Staatsangehörigkeit bietet auch die Möglichkeit, Menschen aus anderen Ländern die Einreise zu verweigern. Laut dem Völkerrecht können Staaten vollkommen selbstständig entscheiden, wem sie unter welchen Bedingungen die Einreise erlauben oder ihm die Staatsbürgerschaft verleihen. So kommt es, dass in der Schweiz drei Instanzen ihre Zustimmung zur Einbürgerung geben müssen: Der Bund, der Kanton und die zuständige Gemeinde. Auf der Bundesebene wird meist nur getestet, ob sich die Person schon seit zwölf Jahren in der Schweiz aufhält oder ein Sicherheitsrisiko darstellt. Die Kantone veranlassen meistens keine Regelungen, sondern überlassen das den einzelnen Gemeinden. Da diese frei den Grad der von ihnen verlangten staatsbürgerlichen Kenntnisse bestimmen dürfen, haben Einbürgerungswillige verschieden hohe Hürden zu überwinden. Es gibt Gemeinden, die eine «einwandfreie Gesinnung und charakterliche Eignung» verlangen – was auch immer das bedeuten mag. Andere wiederum legen besonderen Wert auf das Beherrschen der am Wohnsitz gesprochenen Sprache, ein Faktor, der die Nachbargemeinde eventuell ganz anders beurteilt. Dies führt dazu, dass die Schweiz über eine Vielzahl von Einbürgerungsverfahren verfügt, die alle unterschiedliche Anforderungen stellen. Wenn man diese nicht erfüllt, ist man weiterhin steuerpflichtig, doch das Recht, bei Abstimmungen und Wahlen die eigene Stimme abzugeben, bleibt Nicht-Schweizern verwehrt.

Diese ununterbrochene Hervorhebung der Nationalität, besonders auch in den Medien und die ständigen Vergleiche zwischen Staaten haben ihre Wirkung: Wir sehen manchmal selbst Menschen aus Nachbarstaaten als Ausländer, «Andere» und Fremde an, die nur durch eine Grenze von uns getrennt leben. Jedoch sollten wir Grenzen niemals als mehr betrachten, als was sie sind: Eine abstrakte Idee.

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