Strasse in Taiwan, Quelle: Markus Winkler, Pexels

Über das Reisen – Taiwan

Eine Reportage von Lucas Zibulski

Im Mai dieses Jahres wurde angekündigt, dass das Perkussionsensemble „Groove Connection“, in welchem ich seit einigen Jahren mitwirke, Taiwan besuchen wird. Dabei stand der Austausch mit anderen MusikerInnen, SchülerInnen, das Spielen diverser Konzerte und somit das Herantasten an eine andere Kultur im Zentrum. Was ich dabei erleben und über die Taiwanesische Kultur erfahren durfte, werde ich im folgenden Bericht zusammenfassen.

Als ich im Mai von dieser Nachricht erfuhr, empfand ich keine grosse Aufregung, wie ich es mir bei solch erfreulichen Neuigkeiten gewohnt bin; es erschien mir schlicht unmöglich, in knapp drei Monaten um die halbe Welt in ein Land wie Taiwan zu jetten, von dem ich nicht mehr als den Standort kannte. Meine erste und letzte Assoziation mit diesem 180 Kilometer östlich von China gelegenen Inselstaat war die „Made in Taiwan“ Aufschrift, die so manche Etikette von Kleidern, billigen Souvenirs und zig anderen Produkten zieren.

Meine erste und letzte Assoziation mit diesem 180 Kilometer östlich von China gelegenen Inselstaat war die „Made in Taiwan“ Aufschrift.

Nach oberflächlicher Recherche stellte sich schnell heraus, dass es sich bei Taiwan nicht um ein eigenständiges Land, sondern um die „Republik China“ handle, die vom chinesischen Staat seit Ende des 2. Weltkriegs als ein unabtrennbarer Bestandteil des chinesischen Territoriums erachtet wird. Dies führte bei der Bevölkerung, die seit Langem auf eine unabhängige Regierung insistiert, zu einem heftigen Konflikt mit China.

Mit der ab den 1950er Jahren stark anwachsenden Industrie Taiwans wuchs auch das wirtschaftliche Potential und somit die Attraktivität dieser Insel, was das Interesse Chinas steigerte. Somit ist es Taiwan noch nicht gelungen, ihre Unabhängigkeit durchzusetzen. Allerdings erkennen 16 Länder Taiwan als eigenständigen Staat an und pflegen direkte Handelsbeziehungen, die nicht über China laufen.

Taiwan liegt exakt auf dem nördlichen Wendekreis, wodurch für uns Zentraleuropäer harte klimatische Verhältnisse herrschen… Mit den 70% Luftfeuchtigkeit und den 30° C im Schatten ist es fast unerträglich, sich längere Zeit im Freien aufzuhalten, wo der Körper träge wird und ausdunstet. Als wir den ersten Schritt aus dem Flughafengebäude Teipeh wagten, glaubten wir im Tropenhaus des botanischen Gartens gelandet zu sein und flüchteten in ein eiskühles Auto. Von nun an liefen wir bei jedem Betreten eines Gebäudes oder eines Fahrzeuges in Gefahr, uns zu erkälten, da die Klimaanlagen für ein volles Kontrastprogramm zur Aussentemperatur sorgten.

Die ersten Eindrücke des Landes sammelte ich, als wir vom Flughafen Taipeh in die 4-Millionenstadt Hsinchu fuhren. Fast der ganze Weg erstreckte sich auf einer Autobahn, die sich auf Pfeilern liegend hoch über dem Boden entlang schlängelte. Darunter waren viele containerähnliche Fabrikgebäude zu sehen, die, so dachte ich mir, Waren produzieren, die wir auf aller Welt im alltäglichen Gebrauch antreffen. Zwischen den Fabriken erstreckten sich hin und wieder Nassreisfelder und als wir uns Hsinchu näherten, sich die flachen Fabrikgebäude zu hohen Wohnhäusern türmten und sich die vereinzelten Hütten langsam zu Blocks verdichteten, wurde mir klar, wie fremd mir ein solches Stadtbild erschien. Keines der Häuser liess sich einer bestimmten Epoche zuordnen, die Geschichten, die ihre Fassaden erzählten, waren uns nicht bekannt. Alles erschien so surreal: Die breiten mehrspurigen Alleen mit tropischen Bäumen, umzingelt von Wolkenkratzern, in Dimensionen, die mir bisher unbekannt waren. Überall, wo kein Gebäude stand und keine Strasse gepflastert wurde, spross der Urwald aus dem Boden und schien die Stadt mit seinen knorrigen Stämmen und den brokkoligrünen Kronen im nächsten Moment zu verschlingen.

Wir wurden in Hsinchu – wie auch bei der Ankunft in Taipeh – äusserst herzlich und zuvorkommend empfangen. Nie in meinem Leben wurde mir eine solche Gastfreundschaft entgegengebracht. Doch schon sehr bald kippte der Respekt uns gegenüber in eine Art Verherrlichung unseres europäischen Ursprungs, in eine Bewunderung unseres Auftretens und unseres Aussehens mit einem Beigeschmack von Unterwürfigkeit, der uns ziemlich irritierte und es uns sehr schwer machte, unseren Gastgebern auf Augenhöhe zu begegnen. Alles wurde für einen gemacht und organisiert, sodass sich dieses Unterstützen als ein Bedienen entpuppte. Wir brauchten einige Tage, um zu lernen, wie man damit umgehen sollte. Denn die Dienste unserer Gastgeber auszuschlagen, anstatt sie anzunehmen, galt oft als unhöflich und hätte als eine arrogante Haltung gegenüber ihnen missinterpretiert werden können.

Doch schon sehr bald kippte der Respekt uns gegenüber in eine Art Verherrlichung unseres europäischen Ursprungs.

Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich eine mir verliehene, jedoch völlig ungerechtfertigte Überlegenheit als Europäer. Die meisten Jugendlichen mit denen wir es zu tun hatten, verherrlichten Europa, idealisierten unser Aussehen und unser Lebensstil. Nicht umsonst trägt in Taiwan jeder neben seinem „echten“ chinesischen Namen auch einen englischen Zweitnamen.

Gleich am ersten Tag besuchten wir zwei Schulen, in denen wir mit Kindern zwischen sechs und zehn Jahren Workshops durchführten, die ihnen über Bodypercussion und simple Choreografien ein Rhythmusgefühl näherbrachten. Auch dort bedankte man sich bei uns wärmstens und schwärmte von unserer gelassenen Art der Vermittlung, von unserem lockeren Umgang mit der Musik und den Kindern.

Einige Tage später, als ich mit einem neu gewonnenen Freund namens Steven ins Gespräch kam, wurde mir anhand seiner Erzählungen klar, woher die Bewunderung für unsere „lockere Didaktik“ kam. Steven spielte ungefähr sechs Jahre lang Klavier. Als das College vor zwei Jahren langsam auf ein Ende zuging, der Druck unerträglich wurde und der dafür investierte Zeitaufwand ins Unermessliche stieg, musste er sich zwischen zwei möglichen Karrierewegen entscheiden: Entweder er konzentrierte sich auf das Üben, legte seinen Fokus voll und ganz auf das Klavier, um Pianist zu werden, oder er beendete seinen Klavierunterricht umgehend und investierte die daraus gewonnen Zeit in die schulische Karriere, um Chemiker zu werden. Letzteres setzte er um.

So wurde mir klar, dass es in Taiwan nicht die Freiheit gibt, wie bei uns neben der Schule aus eigenem Interesse ein Instrument zu erlernen – ohne karriereorientierten Hintergedanken. In Taiwan ist der Musikunterricht an Schulen grösstenteils einzig und allein auf eine Karriere ausgerichtet. Wie wir hier den SchülerInnen Rhythmus und Musik zugänglich gemacht haben, findet das nur äusserst selten statt. Allgemein ist das gesamte Bildungswesen in Taiwan im Vergleich zur Schweiz auf heftigste Art und Weise auf Drill und Karriere ausgerichtet.

In Taiwan ist der Musikunterricht an Schulen grösstenteils einzig und allein auf eine Karriere ausgerichtet.

Stevens Alltag zeigt den Tagesablauf eines durchschnittlichen Gymnasiasten in Taiwan:

Um 7 Uhr morgens verlässt er das Haus und fährt eine Stunde lang mit dem Zug in die nächste Stadt, da man seinen Schwerpunkt nur an einem bestimmten College belegen kann. Dort angekommen bereitet er sich um 8 Uhr eine Stunde lang auf den Unterricht vor, der um 9 Uhr beginnt. Die letzte Schullektion endet um 17 Uhr, dazwischen haben die SchülerInnen eine zehnminütige Pause und eine Stunde Mittagspause. Nach der Schule isst er das Abendessen und besucht anschliessend die Carm-School, eine schulische Einrichtung, um die täglichen 2-3 Stunden Hausaufgaben unter Beaufsichtigung zu erledigen. Um 21 Uhr fährt er mit dem Zug zurück nach Hause und geht schlafen. Dieser Tagesablauf wiederholt sich fünf Tage in der Woche. Zusätzlich besucht er auch samstags die Carm- School, um die Wochenendaufgaben zu erledigen.

Als ich das hörte, war ich entsetzt. Wo blieb ihre Freizeit, ihre Freiheit, das zu tun, wofür sie sich selbst interessierten, um sich und ihr Potenzial kennenzulernen? Er lachte nur etwas hoffnungslos und sagte, dass das eben normal sei. Etwas für mich völlig Undenkbares ist deren Norm, doch da sie keinen anderen Alltag kennen, empfinden sie es nicht als problematisch. Auch der Ausgang oder das Abhängen mit FreundInnen findet im Alltag der SchülerInnen und ihren karriereorientierten Leistungen keinen Platz.

Wo blieb ihre Freizeit, ihre Freiheit, das zu tun, wofür sie sich selbst interessierten, um sich und ihr Potenzial kennenzulernen?

Ebenfalls streng strukturiert sieht der Alltag der ArbeiterInnen in einer Fabrik oder eines Geschäfts aus. Diese verdienen pro Stunde ca. 3 US-Dollar und kriegen pro Monat je nach Unternehmen 4-8 Tage frei, darin sind allerdings auch die Wochenenden einberechnet. Zum Vergleich: Um eine Dreizimmerwohnung in Hsinchu zu kaufen, zahlt man etwa eine halbe Million US-Dollar, während ein durchschnittlicher Arbeiter knapp 1000 US-Dollar im Monat verdient und gleichzeitig fast keinen freien Tag bekommt.

Die tief verwurzelte Ordnungs- und Disziplinkultur zeigt sich schon bei den ganz Kleinen und zieht sich durch alle Altersgruppen. Wo jedoch reichlich reingehauen wird und gern auch mal ein paar Bierchen geext werden, ist beim Essen. Als Grundlage gibt es immer Reis oder Nudeln, dazu die leckersten Kreationen, deren fremde Geschmäcker wie ein Feuerwerk im Gaumen explodieren. Sei es Schweinefleisch, Hühnchen, Fisch, Crevetten, Muscheln oder Froschschenkel, die Kreativität und die Fülle an Geschmacksrichtungen, die umgesetzt werden, sind bemerkenswert. Auch wurde mir in Taiwan klar, dass das, was wir unter Tofu verstehen, höchstens die Spitze vom Eisberg ist. Die verschiedenen Konsistenzen und Einlegetechniken, die mit dem Tofu kultiviert werden, machen es zusammen mit der Diversität an Gemüse auch für einen Vegetarier erträglich.

Wir waren 10 Tage in Taiwan und ich könnte endlos von unseren Erlebnissen und Eindrücken berichten. Zuletzt möchte ich festhalten, dass es mein erster Trip nach Asien war und ich mir davor nie hätte vorstellen könne, wie fremd sich unsere Welten sind. Doch erneut bauten wir durch Musik eine Brücke. Vor allem aber wurde mir stärker denn je bewusst, wie privilegiert unser Lebensstandard im Vergleich zu jenem der taiwanesischen Bevölkerung ist. Entsetzt hat mich die dominierende Verherrlichung Europas, die mir den TaiwanesInnen gegenüber unfair erscheint und das Selbstwertgefühl unnötig erniedrigt. Ich habe in Taiwan viel gelernt und bewegende Erkenntnisse über dieses Land und über mich selbst gewonnen.

Aktuelle Artikel

...
Mehr Artikel
laden