Verschwimmende Realitäten

Onlinesucht, eine Erscheinung der digitalen Welt. Gibt es die wirklich? Und warum fühlen sich gewisse Menschen wohler in einer virtuellen Scheinrealität, als in ihrem eigenen Leben?

Ich renne und renne, in welche Richtung ist mir schon lange nicht mehr klar. Die überdimensional grosse Waffe in meiner Hand fühlt sich bestimmt kalt an auf der Haut, mein Gegner ist nirgendwo zu sehen. Ich befinde mich zwischen Mauern, über die ich nicht hinwegsehen kann, meine Lebenskraft leuchtet bereits rot auf. Wie bringe ich sie bloss wieder in den grünen Bereich? Da ist er, hinter mir. Mein Gegner. Ich liege auf dem Boden. Es tut nicht weh, aber aufstehen kann ich trotzdem nicht, da hilft kein Knopf auf dem Controller in meiner Hand. Dann muss ich dieses Level eben wiederholen. Ich weiss nicht, wie lange ich dieses Spiel bereits spiele, aber es ist schon lange dunkel draussen. Morgen muss ich wieder unter Menschen, so tun als ob ich kein Problem hätte und mich sozial verhalten. Denn am liebsten würde ich mich zuhause verkriechen und einfach nur zocken.

In der digitalen Zeit findet unser Leben zu einem gewissen Teil online statt. Wir haben virtuelle Freunde auf Facebook, teilen mit ihnen unser Leben auf Instagram und Snapchat, chatten und verbringen auch ansonsten viel Zeit im Netz. Bis zu einem gewissen Grad ist dies heute normal geworden, doch es gibt Menschen, die Gefahr laufen, den Unterschied zwischen der virtuellen und der echten Realität aus dem Blick zu verlieren. Laut Experten sind in der Schweiz 70›000 Menschen onlinesüchtig. Ein Grund dafür ist die Flucht vor der Realität, die Flucht in eine Welt, in der man sich akzeptiert fühlt und sein kann wie und wer man will. Minderwertigkeitskomplexe, soziale Schwierigkeiten oder Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben drängen Betroffene in die Welt der Shootergames, in denen man sich überlegen und stark fühlen kann; in die Welt der Sims, in der sie ihre eigene Stadt, eigene Charakteren und eine eigene Realität aufbauen können. In der Welt der Chatrooms können sie sich mit Fremden austauschen, über alles, denn in ihrem echten Leben haben sie vielleicht niemanden um zu reden oder trauen sich nicht, gewisse Themen anzusprechen. In der vermeintlichen Anonymität des Internets kann man sich frei bewegen und ohne Ängste, Unsicherheiten oder grossen Aufwand Kontakte knüpfen.

Im Jahre 2010 erschien der Thriller «Erebos» von Ursula Poznanski, welcher das Thema – Flucht in eine andere Realität – aufgreift und thematisiert. Darin wird an einer Schule ein Computerspiel verbreitet, welches mit Aufgaben im echten Leben verknüpft ist und in dem sich selbst die grössten Aussenseiter einen Namen machen können. Es zeigt, wie schwierig es sein kann, die Realitäten auseinanderzuhalten, wie schnell ihre Grenzen verschwimmen und wie gross die Gefahr dabei ist, sich in der virtuellen Welt zu verlieren. Folgen dieser Verirrung sind meist soziale Isolation, Stimmungsschwankungen und eine verzerrte Wahrnehmung der Realität. Wenn der Internetkonsum nicht mehr kontrollierbar ist und das Alltagsleben beeinträchtigt, ist es Zeit, sich mit den Problemen auseinanderzusetzen, die dahinter stecken, und sich ernsthafte Gedanken um die Problemlösung zu machen. Denn so befreiend es auch sein kann, sich einige Stunden in einer anderen Welt verlieren zu können: Das Leben findet immer noch hier draussen statt. Und es wäre schade, dieses zu verpassen.

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