Vom Bauch bis an die Uni

11 Jahre. Und dann noch bis zur Matur. Und dann noch an die Universität. Und dann? Eine Erzählung über unser Schulsystem, den Druck und was wir eigentlich lernen.

Ziemlich feucht und nicht viel grösser als ein Fussball wurden die Einen von ihrer Mutter in ein steriles Spital, die anderen in ein anthroposophisches Geburtshaus oder manch einer sogar in eine Badewanne gepresst, um nach einem mehr oder weniger festen Klapf auf den Popo ihren ersten Atemzug zu erhaschen. Die folgenden, ereignisreichen Jährchen vergingen aufregend: Die einen verbrachten sie als Einzelkind, wohlbehütet zwischen Mama, Papa und einer grossen Auswahl an «Nuggis», während andere mit mehreren Geschwistern um ihren eigenen «Nuggi» kämpfen mussten, oder gar einer bei seinen ersten Schritten nur von der Nanny gelobt wurde, da die Eltern zu beschäftigt waren.

Wie auch immer sich unsere frühkindlichen Umstände ergaben, jeder besuchte mit vier bis sechs Jahren den «Kindski». Viel hatte man sich am ersten Tag im Kindergarten nicht gedacht: Man erfuhr ihn vielleicht als eine Art überdachten Spielplatz mit einer Fülle an interessanten Spielsachen, unbekannten Gegenständen und allerlei fremden Artgenossen seines Alters.

Niemand hätte sich damals vorstellen können, dass es sich dabei um eine Einrichtung zur persönlichen Betreuung, Bildung und Erziehung handle.

Man fand sich selbst wieder in einem sozialen Umfeld, einer Gruppe Gleichaltriger, die es zu kennenlernen galt. Sei es im Sandkasten oder beim Doktor- bzw. Patient-Spielen, bei welchem, wenn wir ehrlich sind, wir doch alle lieber in die Rolle des Patienten schlüpften. Das Neue, Andere machte uns stets neugierig. Ausserdem trafen wir auf eine der ersten Autoritätspersonen ausserhalb des Elternhauses – ich glaube ich verdrängte ihren Namen, aber es war etwas mit «S» – ihr galt es zu folgen und zu gehorchen. Zum ersten Mal im Kindergarten sagte mir ein Junge meiner Gruppe, die, wenn ich mich recht erinnere, den eher fragwürdigen Namen «Windräder“» trug, ich solle mich ficken. Wo ich heute mit einer präzisen Punchline kontern würde, habe ich dazumal zugesehen wie S. ihn mit gehobenem Finger und gereizter Stimme zurechtwies. Ausserdem glaube ich, gelernt zu haben, dass meine Wenigkeit, da hier geboren, zwar Schweizer war, meine Mutter aber, aufgrund fremder Herkunft, Ausländerin sei.  

Betreuung, Bildung und Erziehung schien dem Kindergarten ja ganz gelungen zu sein. Nun folgte die Primarschule. Jeder war so stolz, zur Begrüssung eine Sonnenblume, einen Ballon oder sonst irgend etwas Tolles in der Hand halten zu dürfen, während der neue Klassenlehrer ein Foto knipste, welches einen drei Jahre später, als man sich bereits erwachsen fühlte, in nostalgisches Gelächter ausbrechen liess.

Man freute sich, gross und reif zu sein, so wie die Jugendlichen, fast schon 16, dachte man sich mit sechs und biss in das von Mama in ein  buntes Tupperware eingepackte Sandwich, das man  zuvor aus seinem Dino-Rucksack gekramt hatte.  

Nun lernte man die Basics, wie Schreiben, Lesen, Rechnen und verbrachte die ersten Zehnuhrpausen  tuschelnd über Gerüchten. Auch wenn alle mit  grossem Neugier die Zweierreihe auswendig lernten  und die grossen Buchstaben im Katzenheft nun auch  noch mit weiss übermalten, begann man langsam zu  verstehen, dass es auch Kinder gab, die für manche Dinge mehr Zeit benötigten, beim Schuhe binden  immer noch den Lehrer zur Hilfe riefen und beim Witz, was denn sieben mal sieben gäbe, die Pointe «Feiner Sand» auch nach dem siebten Mal nicht verstanden. Man merkte, dass andere anders waren,  anderes wussten, anderes kannten.  

Und so sah man sich zum ersten Mal, vielleicht bewusst, vielleicht unbewusst, im Vergleich zu  anderen. Schnell war klar, wer dem vom Lehrplan  vorgegebenen Tempo entsprach und wer für gewisse  Schritte länger brauchte. Ich erinnere mich noch  gut an die Elterngespräche Ende Jahr, vor denen ich tierische Angst hatte, da die Autorität, also  mein Klassenlehrer, ja etwas Schlechtes über mich  sagen könnte. Ich hatte das Glück, immer den Anforderungen entsprechen zu können, nie anders  als positiv aufzufallen. Ich war wie gemacht für das was nun kam: OS.

Nicht zu Unrecht bringen diese zwei, an sich ganz  harmlosen Buchstaben, die für Orientierungsschule stehen, einen bitteren Beigeschmack mit sich, der  manchem einen kalten Schauer über den Rücken heraublaufen lässt. Nun wurden wir gesplittet, voneinander getrennt, aus der wohligen, vier Jahre währenden Komfortzone gerissen und in ein neues, messerscharfes, von Noten dominiertes System gesteckt.

Mit 11 Jahren musste uns bewusst werden,  dass unsere erzielten Leistungen in Noten gewertet  werden, Noten, die unser zukünftiges Berufsleben  wesentlich beeinflussen können.

Man konfrontierte uns mit einer klaren Aufteilung in Leistungsniveaus, die nichts anderes als ein einschränkendes  Druckmittel darstellte und für viele der niedrigen Niveaus eine Demotivation zur Folge hatte. Neben den Noten führte das Aufeinanderprallen auf fremde,  von Pickeln übersäte Vorpubertierende, die sich in verschiedensten Entwicklungsstadien befanden, zu grossen Spannungen innerhalb der Klasse. Mobbing  und erzwungene Anpassung waren die Norm.  

Ich erinnere mich, die Frage, wieso man manche unnötigen Dinge lernen müsse, zum ersten Mal  gehört zu haben.

Bis dahin fehlte wenigen das  Interesse oder die Motivation, doch aufgrund eines  ersten Überflusses an Schulstoff, ausgelöst durch  das herrschende Selektionsverfahren, drängte sich  diese Frage auf. Einigen gelang es, dem Druck  standzuhalten, anderen fehlte die Motivation oder  das Durchhaltevermögen und manche schafften die drei Jahre ohne einen Finger zu krümmen.  Aber eines steht fest: Ob Absprung ins Gymnasium oder Einteilung in die WBS, für manche war die Orientierungsschule ein Albtraum. 

Nun sitze auch ich in einem grauen, von Stress erfüllten Gymnasium und versuche mir zwischen Tests, Konzepteinreichungen und Terminen die Zeit freizuschaufeln, um diesen Artikel schreiben zu  können.  

Trotzdem kann ich mit dem selben Stolz, den ich am  ersten Schultag mit der Sonnenblume in der Hand  verspürte, behaupten, ich hätte es geschafft, habe mich die ganze Schulkarriere an der Spitze gehalten  und bin bis jetzt noch durch das Sieb unseres durchdachten Bildungssystems durchgerieselt. Ich und alle anderen Gymnasiasten halten dem  Leistungsdruck stand, haben effiziente Techniken erlernt und dabei jegliche Haltung verloren.

Wir betreiben eine Art Bulimielernen, bei welchem wir  Unmengen von Stoff in uns hineingestopfen, um es in  einer schriftlichen Prüfung wieder auskotzen, sodass  wir es nie wieder fressen werden.

Wird die Menge an  vermitteltem Stoff hier einmal hinterfragt, geben die  Lehrer als Antwort das wäre eine reine Vorbereitung auf das, was uns an der Universität erwarte. Somit  kommt man sich vor, als ginge man 13 Jahre zur  Schule, krampfte sich dumm und dämlich, um danach  wieder das selbe in grün zu erleben. Fragt sich nur, was uns nach der Uni erwartet, ob danach schon das nächste Sieb bereitsteht oder ob all unser erlerntes,  erarbeitetes menschliches Vermögen der letzten 17  Jahre schliesslich ausgeschöpft werden darf. 

Wir bekamen seit der Primarschule durch bestimmte Formen und Strukturen eine Disziplin antrainiert, können uns anpassen, unsere Zeit einplanen, sind in kognitivem und rationalem Denken geübt, besitzen aber keine Spur Selbstverantwortung, da sie nie verlangt wurde. Denn seit den Anfängen nagt jeder vorgekaute Stoff an unserer intrinsischen Motivation, sodass es unmöglich wurde, mehr zu tun, als nur das von uns Verlangte. Wir befinden uns seit der ersten Benotung in einem selektiven Sieb, in dem wir  gelernt haben, selbst zu sieben. Haben aus dicken  Dossiers und nicht enden wollenden Schulstunden  die testrelevanten Dinge herausgefiltert, mussten bei etlichen Aktivitäten die Schule bevorzugen, Prioritäten setzten, sieben, sieben, sieben.

Wie schon  früh in der Primarschule gelernt, ergibt sieben mal  sieben eine arbeitsmarktfähige, druckverträgliche, effiziente Masse, die unsere konsumstarke Leistungsgesellschaft aufrecht erhält – feiner Sand. 

Verschrumpelt und nicht viel grösser als eine Wassermelone werden die einen von ihrer Mutter in  ein steriles Spital, die anderen in ein katholisches  Geburtshaus oder manch einer sogar direkt in sein  Zuhause gepresst, um nach einem mehr oder weniger festen Klapf auf den Hintern ihren ersten Atemzug zu  erhaschen. Und obwohl sie alle so unterschiedlich sind, geprägt von anderen Ursprüngen und verschiedenen Umständen, beginnt am ersten Tag im Kindergarten eine gleichgeschaltete Erziehung und Bildung jedes Individuums, das im Verlaufe der  nächsten 13 Jahre die gesellschaftsfähige Masse  bilden soll.

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