Illustration: Angelica Bebing

Warum unser Gesellschaftssystem heute strenger ist, als wir denken

Die Menschen heutzutage scheinen zu denken, wir seien heute wirklich freier von Erwartungen der Gesellschaft, als wir das früher waren. Wir können “anders” sein und unser Leben so führen, wie wir wollen. Ist das wirklich so?

Die Mehrheit von uns war in dem ein oder anderen Gespräch mit den Grosseltern schon überrascht, wie viele Regeln ihnen früher auferlegt wurden und wie hoch die Erwartungen der Gesellschaft waren. Mit “Regeln” werden hier nicht Gesetze gemeint, sondern alltägliche, unausgesprochene Regeln des Gesellschaftssystems. Einige waren wahrscheinlich offensichtlicher als andere. Frauen durften keine Haut zeigen, Linkshänder mussten mit rechts schreiben und vieles mehr, worüber wir immer wieder dankbar sind, es nicht mehr einhalten zu müssen. Aber wie unerklärlich dies für uns auch scheinen mag, früher war es normal. Es scheint uns, als hätten sich die Leute damals das Leben unnötig schwer gemacht. Doch was wir oft vergessen, ist, dass sich die Menschen das früher gewohnt waren. Man hat nicht viel darüber nachgedacht, weil man es nicht anders kannte. Genau so machen wir es auch heutzutage. Wir sind dankbar, nicht mehr nach so vielen Regeln leben zu müssen. Aber dabei realisieren wir nicht, wie viel wir in unserem Alltag nur tun, weil es von der Gesellschaft verlangt wird. Wir erkennen gar nicht, wie streng unser Gesellschaftssystem ist.

Wir haben in der Geschichte vieles an Freiheit erreicht. Fortschritte, welche die wenigsten rückgängig machen wollen. Dinge, wie grundsätzliche Menschenrechte und Frauenrechte wurden im Laufe der Geschichte Stück für Stück erkämpft. Vieles hat sich zum Positiven gewendet. Das Gesellschaftssystem war früher viel strenger aufgebaut. Leute, die sich nicht an die “Regeln” hielten, hatten keine Chance mehr von der Gesellschaft angenommen zu werden. Im Gesellschaftssystem früher, wurde man zum Beispiel mehrheitlich aufgrund von seinem finanziellen Status verurteilt. Etwas das heute zwar immer noch der Fall ist, aber nicht mehr so stark wie früher. Die Gesellschaft erwartete viel mehr. Die Gesellschaft hat sich aber im Laufe der Zeit sehr verändert.

Wir dürfen heute “anders” sein, müssen keine strengen Regeln der Gesellschaft einhalten. Die Denkweise der Menschen hat sich drastisch geändert. Während man früher Normalität als akzeptabel und richtig sah, suchen die Menschen heute eher nach einer neuen, etwas anderen Verhaltensweise. Anders zu sein wird geschätzt. Daraus könnte man schliessen, dass wir Menschen heutzutage das alte, konservative System endlich losgeworden sind und freier leben.

Wir haben es ohne Zweifel zum grössten Teil hinter uns gelassen. Das bedeutet aber nicht, dass wir heute in einem völlig freien System leben. Unser System hat seine eigene neuen Regeln, Regeln die wir als alltäglich und normal wahrnehmen.

Etwas was die meisten von uns tagtäglich machen und oft nicht hinterfragen ist es sich mit den Sozialen Medien zu beschäftigen.

Soziale Medien sind sehr praktisch, um schnell zu kommunizieren und zu mobilisieren. Wir nutzen diese Dienste mehrmalstäglich. Sie beeinflussen unser persönliches Leben, die eigene Freiheit sowie die gesamte Gesellschaft. Doch bei all den vielen Vorteilen gibt es auch Schattenseiten. Wir merken gar nicht, dass wenige Soziale Medien wie Instagram nutzen, um sich selbst glücklich zu machen. Wir machen das, um die Gesellschaft und unsere Mitmenschen von uns zu überzeugen, aber auch weil es erwartet wird. Die Sozialen Medien sind nur noch mit Mühe aus unserem täglichen Leben wegzudenken. Wir werden direkt skeptisch, wenn jemand keine Sozialen Medien hat.

Hätte man jemandem im frühen 20. Jahrhundert erzählt, wie man sich heute öffentlich präsentiert, wäre er genauso überrascht, wenn nicht noch verwunderter darüber gewesen, als wir es vom damaligen System sind. Und doch ist es für uns komplett normal.

Instagram, Snapchat oder Whats- App sind auf fast jedem Gerät zugänglich und wir können jederzeit auf sie zugreifen. Nur mit wenigen anderen Sachen lässt sich die Zeit so leicht vertreiben und somit Langeweile vermeiden. Aber wir nutzen sie oft auch aus Angst etwas zu verpassen. All diese Tatsachen können dazu führen, dass wir süchtig danach werden, nicht mehr richtig abschalten und entspannen können. Wir können jederzeit sehen, was andere Leute posten und somit was sie gerade tun. So bekommen wir sehr viel aus dem Leben anderer Leute mit und fangen an uns mit ihnen zu vergleichen. Wir haben Angst, dass andere uns für unser Aussehen oder unser Verhalten verurteilen und wir sagen aus diesem Grund nicht mehr frei unsere eigene Meinung. Die ganze Zeit sehen wir bearbeitete und verschönerte Bilder von anderen Leuten. Dadurch fangen wir an, mehr an uns zu zweifeln und werden immer unzufriedener mit uns selber, denn wir wollen auch so perfekt aussehen wie unsere Vorbilder. Es wird also nicht nur von uns erwartet unser Leben öffentlich zu machen, sondern auch der Druck aufgebaut uns anderen Lebensstandards anzupassen. Junge Mädchen wollen plötzlich schlank und gross sein, weil die Mädchen von Instagram alle auch so aussehen. Eltern hinterfragen ihre Fähigkeiten als Erzieher, weil die Eltern auf Youtube das doch so viel besser im Griff haben. Das sind alles Dinge, die von der Gesellschaft erwartet werden. Sie werden von den Sozialen Medien in Form von Posts, als Fotos oder Videos visualisiert und somit verstärkt. Plötzlich sieht man diese Erwartungen als ein Post, Video oder sonst was. Früher waren Erwartungen unausgesprochene Regeln, heute sind sie Bilder die wir ständig in unserer Hosentasche mit uns tragen. Social Media kann diese nur verstärken oder verbreiten, denn sie waren schon da.

Die Gesellschaft erwartet zwar nicht mehr, dass man der Norm entspricht, stattdessen werden Leute geschätzt die “einzigartig” sind. Dieser Gedanke wirkt befreiend, jedoch kann das auch nach hinten losgehen. Plötzlich muss man anders sein, denn ordinär ist nicht mehr akzeptabel. Leute fühlen sich gezwungen sich zu verändern, damit sie nicht als langweilig angesehen werden. Lebt man jedoch zu anders, ist man komisch und es will niemand mehr etwas mit einem zu tun haben. Wir sind heute gezwungen auf einem schmalen Grat zwischen “Normal” und “Anders” zu balancieren und ja nicht das Gleichgewicht verlieren.

Wir merken nie wie streng ein Gesellschaftssystem ist, bevor wir es von aussen betrachten. Wir haben immer das Gefühl freier zu sein als früher. Dies trifft zum Glück auf einige Aspekte auch zu, in anderen Bereichen jedoch richten wir uns immer stärker nach den Erwartungen unserer Mitmenschen. Das Schlimmste daran ist, dass wir es als normal empfinden. Wir sind es gewohnt, uns das Leben anderer im Internet anzuschauen und so sehr an uns zu zweifeln, dass wir nichts anderes mehr wollen, als das Leben dieser Person.

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