Was hinter dem Abnehmen steht

Wie Aussehen, Sport, Essen und vor allem das eigene Körpergewicht plötzlich das Leben bestimmen können. Eine Magersucht-Betroffene erzählt.

Noch vor drei Jahren hätte ich niemals gedacht, dass ich jemals einen Artikel über Essstörungen schreiben würde. Noch weniger hätte ich gedacht, dass ich dies auch noch aus der Perspektive einer Betroffenen schreiben würde, als Mädchen, das an Magersucht erkrankt ist und jetzt anderen davon erzählen möchte. Um einen Artikel zu schreiben, der vielleicht in Erinnerung bleiben wird und so vielleicht einige akut
Bedrohte dazu bringt, eigene Muster zu erkennen und Hilfe zu suchen. Oder um jenen behilflich zu sein, die bereits versuchen, mit einer betroffenen Person umzugehen und damit anhand dieses Artikels einen Rat geben zu können, wie auf solche Vorfälle richtig zu reagieren ist.
Ich weiss nicht, ob mir dies gelingen wird. Aber ich gebe mein Bestes.

Alles begann, als ich vor zwei Jahren – zusammen mit meinem besten Freund Joshua – beschloss, mich «gesünder» zu ernähren. Wir fühlten uns beide zu dick und dachten, dass wir dazu imstande seien, jede Figur erreichen zu können, die uns gefallen würde. Wir dachten, dass wir dazu nur aufhören mussten, Schokolade zu essen und Süssgetränke zu trinken. Doch bereits nach einigen Wochen beschloss Joshua, mit unserer «Diät» wieder aufzuhören. Er vermisste die Milchschokolade, und sowieso, regelmässig Sport treiben war ihm zu anstrengend.

Ich selbst aber hatte bereits etwas abgenommen, hatte angefangen, am Joggen Freude zu finden und fand es auch nicht schlimm, auf Süssigkeiten zu verzichten. Also machte ich weiter. Ich hatte schnell drei Kilo verloren, joggte jeweils acht oder zehn Kilometer anstatt wie zu Beginn noch deren drei und fühlte mich nach und nach richtig wohl in meinem Körper.

Im Sommer 2016 konnte ich jedes Kleidungsstück tragen, das ich wollte, egal ob bauchfrei oder beinbetont, ich fühlte mich wohl darin. Mit 50 Kilogramm gefiel mir mein Körper.

Aber das blieb nicht lange so. Am Anfang der Sommerferien, auf einer Kreuzfahrt mit meinen Eltern, trainierte ich täglich eine Stunde lang auf dem Laufband.

Die Liste der Dinge, die ich essen durfte – welche ich in meinem Kopf erstellt hatte – war bereits sehr kurz geworden. Und sie wurde stetig kürzer.

Bald ass ich freiwillig nur noch wenige Gerichte, vermied alles, was eine Sauce hatte, paniert, frittiert oder in zu viel Fett angebraten worden war und sowieso: Alles Süsse – ausser Früchte – ging gar nicht. Ich trainierte auch extra so, dass ich «richtig Hunger» hatte zum Abendessen und ass dann trotzdem nicht mehr. Eigentlich machte ich das alles, um während der Kreuzfahrt nicht zuzunehmen. Das Resultat war jedoch, dass ich sogar noch ein halbes Kilogramm abgenommen hatte. Trotz der Fülle an Gerichten, die in den Buffetrestaurants der Kreuzfahrtschiffe angeboten worden waren.

Von da an wurde es immer schlimmer. Mein erstes Zielgewicht hatte ich längst erreicht: 50 Kilo sollten es mal werden. Nun wog ich 49. Aber ich war noch nicht dünn genug.

Nach den Sommerferien beschloss ich, noch ein wenig weiter zu gehen. Mein Ziel waren nun 42 Kilogramm, also zehn Kilogramm weniger, als ich ganz am Anfang gewogen hatte. Ich hatte keinerlei Vorstellung, was diese Zahl schliesslich für meinen Körper, meine Psyche, meine Zukunft bedeuten würde.

Das Abnehmen wurde in den darauffolgenden Wochen zu meinem höchsten Ziel.

Ich schlief, um meinen Stoffwechsel anzukurbeln. Ich stand auf, um zu trainieren. Ich ass, um gesünder zu werden als ich es sowieso schon war. Ich lernte, um nicht nur die «perfekte» Figur zu erreichen, sondern auch die perfekten Noten. Ich arbeitete wie besessen an einem Idealbild. An einem Idealbild, das einem ständig vermittelt wird – in der Schule, online, im Fernsehen, in Büchern.

Um diesem Idealbild zu entsprechen, tat ich alles. Ich war motiviert, entschlossen, voller Energie. Also stand ich jeden Morgen auf, begann meinen Tag mit Krafttraining und möglichst wenigen Haferflocken, duschte kalt, schrieb in der Schule mit, machte alle meine Hausaufgaben, lernte auf jede Prüfung, rannte so oft und soweit es ging, testete Diäten, liess immer mehr Nahrungsmittel weg, zählte Kalorien. Wenn mal etwas wehtat, sagte ich mir nur: «No pain, no gain!»

Irgendwann Ende September wurde mein BMI (Body Mass Index, beschreibt das Grösse/Gewicht-Verhältnis) langsam beunruhigend: Ich wog noch 47 Kilo, was einem BMI von 17.17 entsprach und somit bereits im Bereich des Untergewichts lag.

Ich hatte immer öfter Bauchschmerzen nach dem Essen, vor allem nach Teigwaren. Ich fühlte mich schuldig für alles, was ich ass, für alles, was «ungesund» war, für anstrengende Intervall-Trainings, die ich nicht so oft machte, wie ich es mir vorgenommen hatte, und vor
allem für Fressattacken, die immer häufiger wurden. In den Herbstferien 2016 schliesslich organisierten meine Eltern mir einen Arzttermin. Ich sei zu dünn geworden, und irgendwie esse ich nicht mehr richtig.

Am Tag meines Arzttermins war schon das Treppensteigen zur Praxis eine enorme Anstrengung. Meine Beine fühlten sich leer an, kraftlos, geschwächt.

Beim Arzt musste ich zuerst auf die Waage stehen. 45 Kilogramm. Zu wenig, aber nicht dramatisch. Mir wurde Blut abgenommen, mein Blutdruck wurde gemessen. Die Blutwerte waren ganz in Ordnung, nur die Eisen- und B12-Werte waren zu niedrig. Mein Blutdruck war viel zu tief.

Mein Arzt verwies mich an die Jugendpsychiatrischen Dienste, verschrieb mir eine Psychotherapie und eine Ernährungsberatung. Bei meiner ersten Therapiestunde fragte meine Mutter die Therapeutin, wie lange die Therapie wohl etwa dauern würde. Etwa ein halbes Jahr,
vielleicht ein bisschen länger, meinte diese.

Das ist nun über eineinhalb Jahre her. Ich bin immer noch in Therapie.

Denn auch wenn es ziemlich leicht ist, in eine Essstörung reinzurutschen: Wieder heraus zu kommen, kann unglaublich schwierig sein.

Nach dem Arzttermin, noch bevor ich meine Therapie begonnen hatte, war das Ziel klar: 51 Kilo. Mindestens.

Dieses Ziel klingt einfach, aber der Prozess war brutal. Ständig hin und hergerissen zwischen «Ich darf nicht essen, sonst werde ich dick» und «ich muss essen, sonst bleibe ich krank», ass ich mal einen Tag lang gar nichts, mal alles, was ich finden konnte, bis mir schlecht wurde. An Halloween schliesslich erreichte ich meinen Tiefpunkt: Mich dick und hässlich fühlend beschloss ich, all die Kalorien, die ich zu mir genommen hatte, wieder zu erbrechen. Ich war alleine in der Küche und fing an zu essen. Alles, was ich finden konnte. Käse, Schokolade,
Milch, Brot, Butter. Egal. Hauptsache, mir wurde richtig übel. Also versuchte ich, zu erbrechen. Ich schaffte es nicht. Ich trank hochkonzentriertes Salzwasser, um einen Brechreiz zu provozieren. Es nützte nicht. Ich weinte, als meine Mutter mich wenig später anrief. Ich sagte, mir gehe es gut, ich könne jetzt nicht telefonieren, ich sei auf dem Weg zum Bahnhof, zu einer Freundin. Ich legte auf. Sie rief mich wieder an. Und wieder. Und wieder. Ich reagierte nicht.

Später sagte sie mir, dass sie Angst gehabt habe, dass ich mir etwas antun würde.

Am Abend sprach ich noch kurz mit ihr. Sie habe den Notfalldienst der psychiatrischen Jugenddienste angerufen, als sie das Salzwasser im Bad gefunden hatte.

Ich wäre nun ein dringender Fall. Zwei Wochen später begann meine Therapie. Ich nahm schnell zu, ass wieder viel mehr, erlangte meine alte Energie wieder.

Aber ich erlitt auch Rückschläge. Ich weinte oft, lag tageweise nur im Bett, zu traurig, um etwas zu machen. Ich trainierte wieder zu viel, zog mir Überlastungsverletzungen zu. Ich hatte Fressattacken, fühlte mich oft hässlich, dick, verabscheuenswert. Ich war abwechselnd wütend, traurig und einfach nur schockiert, als ich zu realisieren begann, was ich mir angetan hatte. Doch allmählich zeigten sich Besserungen. Irgendwann im Juli 2017 bestärkte mich meine Therapeutin sogar in meinem Bestreben, einen sechsmonatigen Auslandsaufenthalt zu planen. Voller Euphorie bewarb ich mich bei Organisationen und ergatterte schliesslich einen Platz in einem Austauschprogramm für Kanada. Dass ich am Schluss nicht hinreisen würde, weil es mir selbst im Januar des folgenden Jahres noch nicht gut genug gehen würde, wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Ich war damals einfach nur froh, so schnell so grosse Fortschritte gemacht zu haben und die Krankheit scheinbar schon fast besiegt zu haben.

Laut Statistik sterben 10% aller Erkrankten an den Folgen der Magersucht. Nur ein Drittel aller Betroffenen schafft es, die Krankheit endgültig hinter sich zu lassen. Betroffen sind vor allem Frauen (fast vier Mal mehr als Männer). Die Therapiemöglichkeiten für Magersüchtige und Betroffene anderer Essstörungen sind vielfältig: Sie reichen von klassischer Psychotherapie über Körperschematherapie bis hin zu Klangtherapie.

Doch am wichtigsten ist die Früherkennung: Je früher eine Therapie eingeleitet wird, desto einfacher ist die Heilung. Und Anzeichen gibt es viele – auch schon bevor eine betroffene Person untergewichtig wird.

Plötzliches Sporttreiben, Ausreden, um weniger Essen zu müssen und Äusserungen über scheinbares Übergewicht, obwohl eine Person normalgewichtig oder bereits sehr schlank ist, sind klare Warnzeichen. Auch Rituale oder Gewohnheiten wie langsames Essen oder das Trinken von grossen Mengen Wasser während dem Essen können ein
Indiz für eine Essstörung sein. Wenn Angehörige das Gefühl haben, dass eine nahestehende Person betroffen ist, ist Verständnis und Behutsamkeit am wichtigsten. Vorwürfe und Schuldzuweisungen machen die Krankheit meistens nur schlimmer, da Betroffene sich eher zurückziehen und so mehr und mehr die eigene Krankheit als Anker
betrachtet wird. Betroffene zum Essen zu zwingen, bringt meist wenig. Stattdessen sollten Angehörige versuchen, eine vertraute, unaufgeregte, spannungsfreie Atmosphäre zu schaffen und schwierige Situationen wie Essen in Restaurants, an Buffets oder im Ausland zu vermeiden. Auch erzwungene Gespräche über die Krankheit helfen nicht wirklich. Oft reicht ein ehrlich gemeintes «Wie geht es dir?» oder ein «Es ist okay, dass es dir nicht gut geht. Ich bin da, wenn du reden möchtest.», völlig aus.

Auch ich war während meiner Krankheit enorm auf die Aufmerksamkeit meines Umfelds angewiesen. Hätten meine Eltern mich nicht so früh zum Arzt geschickt, hätte ich vielleicht später in eine Klinik eingewiesen werden müssen. Stattdessen konnte ich immer von zu Hause aus zur Therapie gehen, und dabei auch immer auf die Unterstützung meiner Eltern, meines Bruders und meines Freundes zählen. Denn obwohl die Therapie und alles darum herum sehr wichtig ist: Oft kommt es auf die kleinen Dinge an. Wenn ich es geschafft habe, etwas von meiner «Fear-Food-Liste» zu essen, wird der Erfolg noch
grösser, wenn ich merke, dass meine Mutter sich mit mir freut.

Wenn ich nach zwei harten Tagen völlig überraschend einen richtig guten hatte, macht es mich umso glücklicher, wenn mein Freund sich darüber ebenso sehr freut wie ich mich selbst. Der erste Wunsch, abzunehmen, ist über zwei Jahre her. Und noch immer bin ich auf diese Unterstützung angewiesen. Noch immer kämpfe ich manchmal gegen diese Gedanken, die mir sagen, dass ich zu dick sei, dass ich schon zu viel gegessen habe, dass ich rennen müsse. Aber ich kann diese Gedanken immer besser bekämpfen. Und wenn nicht, erinnert mich eine Umarmung, ein Händedruck, ein aufmunternder Blick einer nahestehenden Person daran, dass ich es irgendwann können werde.

Eine Freundin von mir, die ebenfalls an einer Essstörung gelitten hat, sagte mir einmal:

«Und wenn dann 50% deiner Tage gut sind, weisst du, dass sich alles gelohnt hat. Weil du weisst, dass vor kurzem noch keine 5% gut waren.»

Dieser Satz ist mir in Erinnerung geblieben. Weil ich auch genau dafür kämpfe. Für diese 50%. Und letztendlich für den einen Tag, an dem ich nicht mehr ans Essen denke, an mein Gewicht, an Kalorien. Ich kämpfe für den einen Tag, an dem das Essen mich nicht mehr davon abhält, einfach glücklich zu sein. Mit meiner Familie, meinem Umfeld und
vor allem – mit mir selbst

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