Illustration: Filomena Gallay

Wenn man plötzlich nicht mehr alleine ist.

Eine Kurzgeschichte von Celina Reinau

Tag 1

Man dreht sich um. Meint, man hat etwas gehört und dann sieht man niemanden. Passiert ab und zu mal jedem. Wenn man aber meint, es hat jemand auf etwas geantwortet, das man nur gedacht hat, sich umdreht und wieder niemanden findet, ist das schon ein kleiner Unterschied und es läuft einem ein grösserer Schauder den Rücken hinunter. Über den Tag hinweg meinte ich immer wieder, jemand rede mit mir. Ich blickte mich um, aber da war niemand. Später geschah es immer häufiger, dass dieser nicht existierende jemand genau auf das antwortete, was ich dachte. So blickte ich mich den ganzen Tag um und es  fragten mich immer wieder Freunde, was ich den suche oder ob ich meinte, sie hätten mit mir geredet. Ich wusste aber immer, dass nicht meine Freunde mit mir gesprochen hatten. Es fühlte sich anders an, wenn diese nicht existierende Person redete. Es fühlt sich fast schon vertraut an. Wenn eine Menschenmenge durcheinander redet, dann muss man zuerst die Stimmen filtern, sie einer Person zuordnen und dann erst kann man wirklich zuhören. Die Stimme aber, die ich seit heute höre, ist viel klarer; als würde sie von genau neben mir kommen. Wie schon gesagt, bin ich mir aber sicher, dass da niemand ist. Auch wenn ich meine Augen schliesse, höre ich noch jemanden mit mir sprechen. Jemanden, der meine Gedanken lesen kann.

 

Tag 2

Wenn ich Fragen stelle, sie aber nicht ausspreche. Wenn ich denke, aber nichts sage. Wenn ich rechne aber mich verzähle. Dann ist da immer jemand, der meine Fragen beantwortet oder mich ermutigt, die Antwort selbst herauszufinden. Jemand, der mit mir denkt, als würden wir ein normales Gespräch führen und jemand, der meine Mathefehler korrigiert und nochmals nachrechnet. Da ist jetzt immer jemand bei mir. Ist es ein Geist, eine Stimme in meinem Kopf oder eine verlorene Seele? Egal wie und was, es ist unheimlich und ich kenne keinen, dem es auch so ergeht. Selbst wenn ich auf dem Klo sitze, ist da plötzlich eine Stimme. Schaut mir auch jemand zu oder spielt sich das Ganze nur in meinem Kopf ab? Ich habe viele Fragen und Antworten gibt es nur in Bezug auf Schizophrenie. Aufgrund dessen,was man im Internet so findet, sind dies Symptome dafür: Realitätsverlust, Wahnvorstellungen, Störungen des Denkens, der Sprache und der Gefühlswelt. Weil ich aber weder an Realitätsverlust noch an Störungen meiner Fähigkeiten leide, gehe ich wirklich nicht davon aus, dass ich krank bin.

Tag 5

Viele Menschen würden mich wahrscheinlich für verrückt erklären. Manchmal erkläre ich mich selbst für verrückt. Ich kenne niemanden, der mit sich selbst spricht. Niemanden, der die Stimme in seinem Kopf auch noch mag. Ja, man hört immer wieder von Leuten, die viele Stimmen im Kopf haben, aber ich habe nur eine. Und man hört auch oft, dass diese Stimmen, sie dazu überreden von Brücken zu springen, sich vor Autos zu werfen oder sich selbst zu verletzen. Die Stimme in meinem Kopf ist anders. Sie zwingt mich nur zu lächeln, mich zu freuen und dankbar zu sein. Manchmal zeigt sie mir auch auf, wo meine Grenzen sind und wo ich noch weiter gehen kann. Die Stimme in meinem Kopf ist eher mit einem guten Freund zu vergleichen. Jemand, der mich in- und auswendig kennt und auch wenn ich diesen Jemanden mit der Stimme nicht kenne, finde ich immer weniger Gründe, die Stimme nicht zu mögen.

Tag 11

Eigentlich ist es unheimlich, wenn man sich vorstellt, dass da jemand ist, der alles über einen weiss, ohne dass man selbst je mit ihm geredet hat. Es ist, als wäre da ein Geist, der immer bei einem ist, ohne dass man die leiseste Ahnung hat. Nur abends, wenn es dunkel wird, meint man, nicht allein zu sein und eine andere Seele erkennen zu können. Mir scheint der Gedanke allein zu sein aber sehr viel unheimlicher, als wenn da jemand ist. Daher freue ich mich sehr über die Stimme in meinem Kopf. Sie ist nett. Nett im Sinne von unterstützend, bestärkend und liebend. Bei Kaffee und Kuchen mit der Familie unterhalte ich mich eben mal mit mir selbst, anstatt von den anderen am Tisch nicht ernstgenommen zu werden. In der Bibliothek beobachte ich jetzt nicht mehr alleine den schönen Studenten. Auf dem Fahrrad fluchen nun zwei, wenn ich fast überfahren werde. Und so tue ich nichts mehr allein und wünsche mir die Einsamkeit mittlerweile auch nicht zurück.

 

Tag 18

Was, wenn ich nie allein war, sondern immer schon jemand in meinem Kopf lebte? Wenn es dunkel ist, dann liest mir jemand eine Geschichte vor oder redet über ein Gemälde von Monet, dokumentiert die Sterne am Himmel oder zählt die Minuten, bis die Sonne wieder den Himmel küsst und die Stille langsam verschwindet. Ich bin nicht mehr allein. Nicht so, als würde ich in einer Menschenmenge stehen und von hunderten Seelen umgeben sein. Denn dort ist man genauso einsam wie nachts im Bett, nein, ich bin wirklich nicht mehr allein. Und auch wenn da niemand anderes ist, mit dem ich reden kann, ist da jemand der meine Gedanken liest, meine Gefühle fühlt und durch meine Augen sieht. Das glaube ich zumindest. Aber was, wenn da gar niemand ist? Was, wenn ich mir das alles einbilde? Egal welche Antwort ich auf die Fragen finden würde, mein Leben stellt sich gerade auf den Kopf. Und in meinem Kopf ist da jetzt jemand, der mit mir spricht. 

 

Tag 25

Ich stehe vor dem Spiegel und denke darüber nach, wie die Hose zu eng, das T-Shirt zu gross und mein Haar zu strubbelig ist. Da sagt jemand: «Du bist wunderschön.» Ich drehe mich nicht einmal mehr um, um zu sehen wer mit mir spricht. Denn ich weiss, ich werde dort niemanden finden. Auch wenn ich eigentlich mir selbst zugeflüstert habe, ich sei wunderschön, nehme ich das Kompliment an, als wäre es von jemand anderem. Schade eigentlich, dass wir Komplimente einfacher von anderen annehmen und generell mehr glauben, was wir von anderen hören. Wieso glauben wir uns selbst eigentlich nicht. «Ich glaube dir», sagt die Stimme in meinem Kopf. «Und ich glaube dir», gebe ich zur Antwort. Und nein, ich spiele nicht auch Schach mit mir selbst, das funktioniert so nicht. Es ist eher so, als wäre da jemand, der nicht ich ist, aber der meine Gedanken lesen kann und mit mir über diese diskutiert. Als wäre da eine Seele, die ich nicht sehen kann und trotzdem können wir uns unterhalten. Und ich könnte tausende andere Vergleiche aufzählen. Versuchen mich zu erklären, aber so wie bei der Liebe kann niemand wirklich in Worte fassen, was man fühlt. 

 

Tag 43

Ich bin einsam. Das sagen mir jedenfalls die Menschen in meinem Umfeld. Wieso ich denn nicht nach der grossen Liebe strebe, nicht davon träume meine zweite Hälfte zu finden. Und ich frage mich wie es andere können, wenn es doch viel schöner ist, seine verwandte Seele immer bei sich zu haben. Vielleicht ist es so vorgesehen, dass eine Seele entzweit wird, damit der Mensch sein Leben lang die andere Hälfte suchen muss und so eine Aufgabe hat. Und vielleicht hat das bei meiner Seele einfach nicht funktioniert. Vielleicht ist aber auch die Person mit der anderen Hälfte meiner Seele gestorben und so kann die Seele nun zu mir finden, mit mir reden und ich habe die Aufgabe meines Lebens erfüllt. Wie das alles funktioniert? Keine Ahnung. Aber anstatt mich an meiner Blindheit festzuhalten, trainiere ich eben meine anderen Sinne. Ich habe keine Antwort auf viele Fragen, die ich mir stelle, so muss es wohl auch alten Philosophen und Wissenschaftlern ergangen sein, die tausende Fragen in ihren Köpfen hatten und nie eine Antwort finden konnten. Vielleicht wird eines Tages eine Person Antworten auf meine Fragen finden. Und für die Menschen in der Zukunft werden diese Antworten dann völlig klar sein. Aber da ich noch tausende Unklarheiten in meinem Kopf habe, höre ich auf mich selbst zu erklären, denn so wie bei der Liebe ist dies nahezu unmöglich.

 

Tag 138

Seit 138 Tagen werde ich begleitet. Gesellschaft leistet mir diese Stimme, diese Seele, dieser Geist. Ich habe meinen Frieden damit gefunden. Nicht mehr allein zu sein ist nicht schlimm. Schlimm war, nicht zu wissen. Aber wenn man immer auf alles eine Antwort haben will, dann wird man verrückt. Man dreht durch, denn es ist unmöglich, keine Fragen zu stellen. Die Suche nach Antworten ist mit Sisyphus Arbeit zu vergleichen. Immer, wenn man meint, man habe eine Antwort, bilden sich hundert neue. Man muss nicht alles lösen können. Man muss nicht alles erklären können. Das Wichtige ist, in der Unwissenheit Frieden zu finden. 

 

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