Illustration: Chika Lutz

Wenn weniger mehr wird

Meine persönliche Geschichte über den Weg in eine Essstörung

Bevor ich 2019 für ein Jahr in die USA ging, hörte ich, vor allem von Jungs, immer wieder den Satz: „Aber gell, es kann sein, dass du zunimmst. Das ist dir schon bewusst, oder?“ Ich winkte immer ab und antwortete: „Ach und wenn schon ist doch egal, ich verliere das ja sowieso wieder.“ Ich glaubte nicht, dass ich zunähme und schon gar nicht, dass es mir etwas ausmachen würde. Tja, falsch gedacht.

Ich hätte nie gedacht, dass es jemals so weit kommen könnte. Eine Essstörung zu entwickeln ist ein fluider Prozess. Es gibt keinen konkreten Punkt, an dem man es ein Problem nennen kann. Für ein gestörtes Essverhalten gibt es verschiedenste Hintergründe und ich kann nur für mich sprechen, aber Kontrolle spielte dabei eine riesige Rolle. Ich bin keine Expertin und habe Schlüsse nur aus eigenen Erfahrungen gezogen. Je mehr ich mich aber mit dem Thema beschäftigt habe, desto häufiger bemerkte ich, wie weit verbreitet das Problem ist und wie sehr es verharmlost und unter den Teppich gekehrt wird. Magersucht und Bulimie sind bekannt und anerkannte Krankheiten in der Gesellschaft, aber die weite Grauzone zwischen „gesund“ und „krank“ ist oft  sehr undurchsichtig. Vielleicht sogar undefinierbar. Darüber zu sprechen ist schwierig, weil man auf keinen Fall zu den „Kranken“ gehören möchte und trotzdem war es mein einziger Weg wieder heraus. 

In der 7. Klasse, da war ich 13 Jahre alt, fing es langsam an, nicht bei mir, aber um mich herum. Die Jungs schrieben Listen: Wer das schönste Mädchen sei, mit dem schönsten Körper, dem nettesten Po und den grössten oder für die Jungs die etwas „weiter“ waren,  mit den bestgeformten Brüsten. Ich landete meistens weit unten. 

Ich war gross, dünn, sehr sportlich und hatte eigentlich kein Problem mit mir. Mit der 8. Klasse rückte dieses Thema jedoch mehr und mehr in den Vordergrund. Alle meine Freundinnen hatten Busen bekommen, ausser mir natürlich, einige hatten den ersten Freund und damit ihren ersten Kuss gehabt und einige hatten auch schon mit Körperkomplexen zu kämpfen. Eine meiner damaligen besten Freundinnen fing an, die Kalorien auf den Lebensmitteln nachzuschauen. Eine andere Freundin hatte es schon härter erwischt. Sie wurde von ihren Eltern zum Ernährungsberater geschickt. Sie sei zu pummelig.

Ich konnte mit diesen Problemen nichts anfangen und machte mir Sorgen um meine erste Freundin und die Zweite tat mir einfach nur leid. Während sie sich das gesündeste Brötchen, einen Apfel und einen fettarmen Joghurt zum Mittagessen holten, machte ich mich an die Schokodonuts. Ich ass viel und gerne und wurde dabei oft für meine schlanke Figur gelobt und beneidet, was mir zwar schmeichelte, aber mich eigentlich herzlich wenig interessierte. Denn solang ich keinen Hunger hatte, fühlte ich mich pudelwohl in meinem Körper. Ja, Brüste hätte ich auch gerne gehabt, aber meine Gene konnte ich nicht ändern.

So ging das weiter. Ich ass viel, machte viel und unglaublich gerne Sport. Ich war inzwischen 1.78 m gross, schlank, mit einem kleinen Busen. Im ersten Jahr des Gymnasiums fühlte ich mich sehr wohl und war völlig frei von Gewichtssorgen, während wieder eine andere Freundin in eine Magersucht reinrutschte. All diese Probleme rund um den Körper konnte ich überhaupt nicht verstehen, geschweige denn nachvollziehen.

Illustration: Chika Lutz

Im Juli 2019 ging die grosse Reise los. Völlig aufgedreht und gehypt verbringe ich die ersten zehn Tage in den USA in einem Camp für Austauschschüler. Wir sind auf einem College Campus untergebracht und es gibt Salat, Pizza, Burger und 2-3 Cookies zum Nachtisch, jeden Tag. Wann bekomme ich die Chance umsonst nochmals so viel Essen zu bekommen? Ich schlemme also weiter, auch danach bei meiner Gastfamilie. Drei Burger zum Abendessen, davor gab es schon den ganzen Tag Snacks. Ich wurde nicht satt.

Aus heutiger Sicht war das Kummerhunger. Meine Gastmutter war sehr schwierig. Das Dorf, in dem ich lebte, hatte ungefähr 62 Einwohner. Und ich hatte nichts zu tun. Mahlzeiten wurden die Highlights des Tages, auf die ich mich freuen konnte und von denen ich manchmal eben auch nicht genug bekam. 

Ziemlich schnell beginne ich zuzunehmen. Für andere kaum bemerkbar, aber für mich umso mehr.

 

Ich stelle mich nun, gefolgt vom Vorschlag meiner Gastmutter, jeden Morgen auf die Waage und notiere mir mein Gewicht. Auf Drängen meiner holländischen Gastschwester und meines schlechten Gewissens, wie sehr das nach Essstörung und krankhafter Körperdisziplin aussieht, höre ich damit auf. 

Wohl fühle ich mich nicht mehr in meinem Körper. Von da an geht es auf und ab mit meinem Essverhalten. Ich kaufe mir mein Gemüse, koche viel, esse mal mehr, mal weniger und stehe immer im Zwiespalt zwischen abnehmen wollen und dem Wissen, dass alle im Austauschjahr zunehmen und danach automatisch wieder abnehmen. 

Im Oktober hat meine Essstörung ihren ersten Höhepunkt erreicht. Die Volleyballsaison ist vorbei und Basketballtraining hat noch nicht wieder angefangen. Ich gebe mein Bestes, um mich fit zu halten, gehe Joggen und mache 7-min Workouts. Doch ich nehme weiter und weiter zu. Abends versuche ich immer wieder hungrig ins Bett zu gehen, damit ich morgens mit gutem Gefühl frühstücken kann. Denn ich hatte mir nun so viel Wissen angeeignet (heimlich natürlich), dass ich wusste, dass der Körper morgens am besten verdaut und abends am schlechtesten. Meine Hoffnung hängt am Basketball. Jeden Tag wieder Training zu haben, viel zu rennen und dabei natürlich abzunehmen. Meine Vorstellungen bewahrheiten sich zum Teil und so kam ich auf meinen Sporttrip. Nach einer Weile wurde das Training weniger anstrengend und ich hatte Angst wieder zuzunehmen. So kam es, dass ich nun jeden Tag nach dem Training noch mindestens zwei 7-min Workouts machte. Ein Bauch-Workout musste immer dabei sein. Je länger ich das durchzog, desto weniger befriedigte mich meine Leistung. Es musste mehr sein. Ich war noch nicht völlig erschöpft. Also drei Workouts und manchmal sogar vier, wenn der Druck ganz schlimm war.

Mein Körper gefällt mir weiterhin nicht und nachdem ich endlich meine Gastfamilie gewechselt habe, kann ich für kurze Zeit aufatmen. Meine neue Gastmutter kann fantastisch kochen, ist Ernährungslehrerin und kocht keine Fertiggerichte, die ich vorher so oft essen musste. Damit stieg aber auch die Erwartung. Wieso sehe ich denn noch nicht so aus, als ob ich abgenommen hätte? Bis zu meinem Gastfamilienwechsel war mir kaum bewusst, wie weit ich mich schon reingesteigert hatte und wie gross das Problem geworden ist. Die anderen Schwierigkeiten bei meiner ersten Gastfamilie waren mindestens so gross, sodass dieses Thema ziemlich unterging. 

Mein schlechtes Gewissen begleitete mich dabei die ganze Zeit. Ich weiss um die Spirale von einer Essstörung, bin mir im Klaren über das Thema Bulimie und Anorexia Nervosa und habe noch nie etwas von Diäten oder Fit-Slim-Body Trends gehalten. Mir war einerseits bewusst, was ich da tat und in welche Richtung das alles eigentlich ging, aber andererseits wollte ich die Kontrolle über meinen Körper behalten. Oder wiederhaben. Um mich herum hatte ich sie verloren, war ständig neuen Situationen und Umständen ausgesetzt. 

So kam es, dass ich mir einredete, wenn ich nach Hause käme, würde alles wieder gut. In Gedanken wurde es mein sicherer Hafen. Ich ass also wenig unter der Woche und haute am Sonntag und an Festtagen, wie Weihnachten, voll rein. Danach natürlich wieder Volldiät kombiniert mit viel Sport. Um das schlechte Gefühl abzuarbeiten. Immer mit dem Gedanken, zu Hause werde alles gut.

Eines Tages anfangs März halte ich es nicht mehr aus und rufe meine Stiefmutter an. Ich hatte bis dahin niemandem von meinen Essens- und Körperproblemen erzählt, da ich mir auf keinen Fall eingestehen wollte, dass ich es nicht mehr unter Kontrolle hatte. An diesem Tag geht es mir aber so schlecht wie vorher noch nie. Also wähle ich die Nummer. Ich erzähle ihr vieles, nicht alles, unter Tränen im Bus zum Leichtathletiktraining. Volles Verständnis, leichte Verzweiflung gepaart mit Hoffnung, dass es wirklich besser werden würde, wenn ich wieder zu Hause wäre, nehme ich über den Hörer wahr. 

Durch Corona konnte ich früher nach Hause, doch der Druck liess nicht nach. Ich musste diese zusätzlichen Kilos ja jetzt irgendwie loswerden, aber ohne etwas dafür zu tun  klappt das sicher nicht.

Ich jogge jeden Morgen fünf Kilometer, danach 20 min Absworkout. Vor dem Frühstück versteht sich. Mein Mittagessen halte ich eher klein und auch mein Abendessen muss noch etwas Platz für Hunger lassen. Meinen Eltern bereitet dieses Verhalten Sorgen, doch ich bestreite alles. Immer mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Um sie zu beruhigen, esse ich oft mehr als ich wollte. So richte ich es mir ein, dass ich bei meinem Vater und meiner Stiefmutter eher mehr esse, und dann in der Woche bei meiner Mutter ziemlich viel weniger. Ich glaubte für mich einen Rhythmus gefunden zu haben. 

Ich nähere mich meiner „Idealfigur“ und auf das Drängen meiner Eltern jogge ich nun an einem Tag und arbeite am anderen an meinem Bauch. Weiterhin beschäftigt mich die Frage, ob es genug sei. Hatte ich nicht doch noch ein Kilo weniger vor einem Jahr, oder bin ich schon dünner als damals? 

Der Sommer kommt. Grillabende, Geburtstage, alles verbunden mit viel Essen. Auch mit meinem immer prüfenden Blick auf die Figur bin ich eigentlich eine leidenschaftliche Esserin. So esse ich viel und gerne an diesen Abenden, verbiete mir aber das Frühstück. Als ich in die Ferien fahre, nach Berlin, habe ich schon vorher einen Plan. Ich esse so viel ich will, mittags und abends. Am Morgen gehe ich eine halbe Stunde joggen und esse genau einen Pfirsich mit zwei Löffeln extrem fettarmen Joghurt. Ich bilde mir wieder ein, eine gute Balance gefunden zu haben. So zieht sich das über die nächsten Tage hinweg und ich esse so viel, dass ich mich zuhause fast wieder auf das wenige Essen freue. Langsam fängt es mir an zu dämmern, wie kompliziert, stressig und oft unangenehm mein Essverhalten doch ist. Aber ich muss ja jetzt erstmal wieder „die paar Kilos“ von Berlin runterbekommen. 

Zwei Wochen Bretagne stehen an und ich weiss, dass es meinen Eltern auffallen würde, wenn ich nicht so viel essen und ausprobieren würde. Dazu kommt, dass sie mein ständiges Rumhampeln und auf dem Boden-an-Stelle-robben auf so engem Raum noch mühsamer fänden als sonst. So schliesse ich einen Pakt mit mir: In der Bretagne haue ich voll rein, aber so richtig, und wenn dann die Schule wieder anfängt. Ganz gesunde Ernährung und kleine Portionen. 

Am ersten Abend fängt das grosse Fressen an. Danach im Bett suche ich auf Youtube Workouts, die möglichst viele Kalorien verbrennen. Am nächsten Morgen, während meine Eltern schon beim Frühstücken sind, (mir ist schlecht), mache ich mein Workout. In der Hälfte breche ich ab, schäme mich und denke mir nur, wie bescheuert das Ganze hier ist. Ich gehe unter die Dusche, ziehe mich an, laufe zur Boulangerie und hole mir ein „Chausson au Pomme“. Zwei Stunden später esse ich es dann auch, nachdem ich gewartet habe, bis ich den Hunger auch wirklich gespürt habe. Am nächsten Morgen esse ich nur wenig, weil ich weiss, dass wir später auf den Markt gehen werden. Ich wollte natürlich alles Mögliche probieren. Wir kaufen viel ein. Ich probiere ein Stück von dem bretonischen Kuchen und nehme einen Bissen von einer Galette.

Aus einem Gespräch mit meinem Vater zog ich eine neue Lehre für mein Essverhalten. Über Umwege kamen wir auf das Thema Essen und er sagte mir, dass er nur noch essen wolle, wenn er Hunger hätte. Diese „neue“ Idee schien mir die Lösung zu sein. Warum denn auch nicht? Der Körper sagt einem schon, wenn er was haben will. Ich wollte nicht mehr abnehmen, sondern nur mein Gewicht halten. Von da an versuche ich genau zu spüren, wann ich Hunger habe und erst dann etwas zu essen. Da mir das in den Ferien aber kaum gelingt mit all den Cafés und Spezialitäten, die man so am Wegesrand antrifft, kann ich mein schlechtes Gefühl nicht loswerden und halte es genau drei Tage komplett ohne Sport aus. Am Morgen des vierten Tages stehe ich um 6:30 Uhr auf, um 3 km zum Bäcker und 3 km wieder zurückzujoggen. Danach fühle ich mich so gut, dass ich am nächsten Tag direkt nochmal Sport treiben muss, in Form eines Workouts. Ich begründe mein Tun immer damit, dass es mir ja besser geht danach. Um aber nicht zu viel Aufmerksamkeit meiner Eltern auf mein getriebenes Verhalten zu lenken, einige ich mich mit mir selber darauf, nur jeden zweiten Tag Sport zu treiben. 

Oft fragen mich meine Eltern, ob es mir gut ginge. Ich antworte immer intuitiv mit einem kräftigen „Ja!“ und frage mich währenddessen, ob es nun wirklich so ist, verwerfe diese Frage dann aber wieder schnell.

Eines Tages in den Ferien erzähle ich meinen Eltern, wie sehr ich die Ruhe des gestrigen Tages genossen habe. Ich will kein grosses Fass aufmachen und ihnen nur (auf Umwegen) mitteilen, dass es mir langsam besser ginge. Für sie ein willkommener Anlass über mein (Ess-)Verhalten zu sprechen und mir ihren Unmut darüber mitzuteilen. Das Thema ist nun auf dem Tisch. Nachdem sie mir gesagt haben, wie sehr sie meine Unruhe, meinen Tatendrang und das ständige Essen in meinem Kopf bemerkt haben, wird mir das erste Mal bewusst, dass ich meine Eltern damit eigentlich sehr belaste. Ja, oft auch stresse. In den Ferien. Mir ist dieses Gespräch sehr eingefahren, denn nun waren es nicht mehr nur meine Sorgen und Krämpfe, sondern auch die meiner Eltern. Ich wollte meine Eltern nicht belasten und schon gar nicht mit einem selbstproduzierten Problem. Hatte ich also die Balance verpasst? 

Es folgen mehrere unangenehme Gespräche über mein Essverhalten (welches immer noch sehr gehirngesteuert und mit schlechtem Gewissen verbunden ist), über meinen eigengemachten Druck und das Gefühl, Kontrolle über sich selbst haben zu wollen. Je mehr wir darüber reden, desto mehr muss ich mir eingestehen, dass ich da ein Problem in mir entwickelt habe und dass meine Produktivität der letzten Monate viel mit Verdrängung anderer Themen zu tun gehabt hat.

Das Problem war nicht mehr nur meine Essstörung, wie ich es inzwischen laut sagen konnte, sondern vielmehr der innere Druck völlig in Balance sein zu wollen und alles im Griff zu haben.

Doch weiterhin hoffte ich auf die Zukunft. Wenn die Schule wieder anfängt, dann… hätte ich einen geregelten Alltag, dreimal die Woche Training, könnte mich auf drei Mahlzeiten einstellen und diese auch einhalten. Käme in einen gesunden Rhythmus. 

Kurz vor Schulbeginn geht es mir gut, ich habe das Gefühl, ausgewogen zu essen, viele Sachen zu unternehmen und den Tag mit vielen schönen Dingen zu füllen. Ich fühle mich wohl und kann dazu noch auf eine ereignisreiche, nähere Zukunft blicken. Die erste Schulwoche geht schnell und erfolgreich zu Ende. Sie erwies sich als sehr produktiv und ich hatte einige nette Leute in der Klasse. Ich kann wieder normal essen, mir meine gewünschte Grösse der Portion für das Mittagessen in der Schule mitnehmen und komme jeden Tag zufrieden nach Hause. Ich will das meinen Eltern unbedingt mitteilen, damit ich ihnen zeigen kann, wie gut es mir doch geht und dass man sich keine Sorgen machen muss. 

Es ist Freitag der zweiten Schulwoche und die Beerdigung meines Grossvaters. Trotz des traurigen Anlasses freue ich mich sehr meine Verwandten zu sehen. Die beste Freundin meiner Stiefmutter ist auch da. Ich mag sie und schätze sie sehr. Wir sehen uns kurz vor der Kirche und ich erzähle ihr, wie sehr ich die Schule liebe, da sie mir Routine gibt und ich nebenbei jeden Tag nachhause gehe und etwas gelernt habe. Sie fügt hinzu: „Ja, du wirst gefüttert.“ Ich stimme ihr nickend zu. Danach gehe ich wieder zu meinen Cousinen und Cousins und wir gehen in die Kirche. Nach dem Gottesdienst muss ich hoch zur Chorempore, um meine Sachen zu holen. Sie war auch oben und wurde soeben von meiner Stiefmutter mit Butterkeksen beschenkt. Sie bietet mir einen an, doch ich weise ihn dankend zurück. Vielleicht etwas zu schnell und zu energisch. Als Antwort auf meine Reaktion erhalte ich in ganz ruhiger, aber ernster Stimme: „Ja, ich weiss du bist nicht so auf dem Essenstrip.“ Mir schiessen die Tränen in die Augen. Scham, das Gefühl von Ergebung holen mich ein und ich bin erst einmal sprachlos. Glücklicherweise war es eine Beerdigung, da fällt es den anderen nicht speziell auf, wenn jemand weint. Alles was ich rausbekomme ist: „Es ist so schwer.“ Sie macht die Schachtel wieder zu und ich versuche mich zu beruhigen, während ich meine Sachen zusammenpacke. Diese Szene warf mich komplett aus dem Konzept. Hatte ich mich doch nicht im Griff? War es mir anzumerken? Sie sagte mir zwar ganz offen, dass meine Stiefmutter mit ihr darüber geredet hatte und trotzdem ging diese Angst beobachtet oder bemerkt zu werden nicht weg. Sollte ich noch etwas Kleines essen, um keine Aufmerksamkeit zu erwecken oder kann ich dieses Stückchen weglassen? Denn bei all den undurchsichtigen Ängsten mein Gewicht nicht halten zu können, so wollte ich doch auf keinen Fall in die Schublade „die mit der Essstörung“ gesteckt werden. Ich hatte keinen Halt mehr. Ich hatte das Gefühl für mich, meinen Körper und mein Wohlbefinden verloren.

Wie beschreibt man eigentlich einen Körper? Sofort fällt einem dick, dünn, klein und gross ein. Denkt man ein bisschen länger darüber nach, kommen vielen vielleicht die Adjektive muskulös, fettleibig oder knochig in den Sinn. Doch alle diese Beschreibungen beziehen viele Aspekte eines Körpers gar nicht mit ein, die Organe, die Haarsturktur, die Knochendichte und Füsse, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Wir zerreissen uns die Mäuler über die schönen und noch perfekteren Körper, versuchen diese durch Sport und bestimmte Ernährung zu unseren zu machen und halten auf der anderen Seite an Hashtags wie #Bodypositivity und #WokeUpLikeThis fest.

Wie konnte dieses intime, persönliche Subjekt Körper, dass niemanden etwas angeht ausser einen selbst, so ins Rampenlicht gestellt und somit der Öffentlichkeit auf dem Silbertablett präsentiert werden?

Zurück zum Davor. Da wollte ich hin. Als ich mir keine Gedanken über meine Figur und mein Hungergefühl gemacht hatte. Als ich ass, wenn es die Möglichkeit gab und mir nicht den Nachtisch, im Wochenessensplan, in Wenig-Kalorien-Mahlzeiten einbettete. In einem langen Gespräch mit meinen Eltern fiel der Satz: „Du kannst nicht mehr zurück, du hast diese „Unschuld“ verloren.“ Das sass. Ich brauchte Zeit, um danach wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Wenn ich nicht mehr zurück kann, wo soll ich dann hin? Mit diesen Problemen? 

So schräg das auch klingen mag, ich musste mich neu ausrichten. Vielleicht sogar komplett umdenken. Wenn ich nicht mehr zurück kann, so muss ich mir etwas Neues aufbauen.

Es sind zwei Monate vergangen und ich habe innerlich viel mit mir gekämpft. Mehr und mehr erkannte ich, dass es mir schlecht ging und, dass mir mein Essverhalten mehr Stress machte als Sicherheit gab. In kleinen Schockmomenten begann ich plötzlich meine ganzen Mahlzeiten der letzten Tage durchzugehen. Gleichzeitig schnellte mein Puls hoch und ich spürte den Stress an meinem ganzen Körper. Langsam nur konnte ich mich danach beruhigen und stand immer noch vor dem gleichen Problem. Wie kann ich glücklich sein? Immer mit dem stillen Nachsatz: „…Und dünn bleiben.“ Denn in meiner Welt gehörte meine Figur zu einem Faktor von Glück. Ich war fest davon überzeugt, dass ich unglücklich würde, wenn ich zunähme. 

Aber der Körper ist kein Teil, den man sich durch intensiven Sport und „gesunder“ Ernährung erbaut, an dem man herumschrauben und feilen kann bis das Ideal erreicht ist. 

Der Körper ist eben nicht nur ein Aushängeschild für die Aussenwelt, sondern gibt uns allen die Möglichkeit zu existieren. 

In den Herbstferien fuhr ich mit einer guten Freundin in die Berge. Uns beide bedrückten Themen und so redeten und wanderten wir viel. In diesen drei Tagen löste sich vieles. Durch das Laufen in der Natur und den ständigen Austausch mit einer vertrauten Person, konnte ich über viele Dinge nachdenken. Und über andere eben auch nicht. Vor allem aber, gaben mir diese drei Tage Zeit zu beobachten. Ich konnte die Zutaten der Mahlzeiten nur begrenzt wählen, da wir in einem Häuschen in einem Dorf ohne Einkaufsladen wohnten, und weil ich kein Theater machen wollte. Mit einem leeren Magen zu wandern, war auch keine Option und so ass ich was auf den Tisch kam und nicht zu wenig davon. Ich glaubte, dass mir das „viele“ Essen nicht gut tun würde und ich unglücklicher werden würde. Doch ich fühlte mich prächtig mit genug Essen im Magen. Ausserdem konnte ich drei Tage lang beobachten wie Essen meine gute Freundin glücklich machte und wie sehr sie geniessen konnte, ohne einen einzigen Gedanken an ihre Figur dabei zu verlieren. 

In den darauffolgenden Tagen entwickelte sich mein Körpergefühl so rasant, dass ich es gar nicht beschreiben kann. Die Lust am Essen kam wieder zurück, ich verlor mehr und mehr den Sportdruck. Von da an ging es bergauf und ich konnte endlich wieder klar denken. 

Mein Umfeld veränderte sich nach den Herbstferien sehr und ich merkte, dass ich meine Figur nicht mehr brauchte, um mich wohlzufühlen. Andere Dinge wie soziale Kontakte und Gemeinschaft spielten jetzt eine grosse Rolle und nicht mehr die eigene Perfektion. 

Aus dieser Zeit habe ich sehr viel gelernt und lerne auch heute noch, aber die wichtigste Erkenntnis war, dass mein Essproblem nicht für sich, sondern für ein anderes Problem stand und nur Ausdruck dessen war, dass es mir ziemlich schlecht ging. Deshalb war ich auch nie zufrieden. 

Denn unser Körper ist kein Mittel oder Weg zum Glück, er ist das, was wir sind und es wäre doch fatal, uns nur auf dick oder dünn zu reduzieren.

 

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