Zeitverzerrung

Warten. Manchmal gibt es nichts, was uns derart wahnsinnig machen kann. Doch wann und warum verlieren wir unsere Geduld?

Die Anzeigetafel zeigt stur eine orangene Drei an. Auto um Auto fährt an der Traminsel vorbei, Sekunde um Sekunde verstreicht. Seit wann hat eine Minute über
hundert Sekunden? Standhaft bleibt die Drei stehen, kein Tram weit und breit. Dann endlich: Aus der Drei wird eine Zwei – das Spiel beginnt von vorne.

Während die Zeit zäh verstreicht, nimmt die Frustration unaufhaltsam zu, der Drang etwas zu treten, werfen, schlagen keimt drängend auf. Wie kommt es, dass es uns so wahnsinnig macht, einfach abwarten zu müssen?

Dabei ist wohl unbestritten: Alles braucht seine Zeit. Doch wieviel? Wir alle ordnen automatisch jeder Aktion eine (unserer Meinung nach) angemessene Zeitspanne zu. So darf eine YouTube-Werbung nicht
länger als fünf Sekunden dauern, das nächste Tram bekommt maximal sieben Minuten zugestanden.

Die automatische Zeitbewertung hat zur Folge, dass wir – sobald unsere Erwartung nicht mehr mit der Realität übereinstimmt – ungeduldig, genervt und frustriert werden.

Doch unsere Einschätzungen beruhen nicht auf sachlicher Analyse. Besonders in unserer morgendlichen Hektik überlegen wir uns nicht nüchtern, wann das Tram wirklich ankommen wird (geschweige denn, ob es sich lohnt, sich von der Antwort auf diese Frage so frustrieren
zu lassen). Oh nein, diese Beurteilung überlassen wir unseren Gefühlen.

Angst, Vorfreude und Co stürzen sich begeistert auf unsere Einschätzung und verzerren unseren Erwartungswert buchstäblich nach Lust und Laune. Wenn wir zu spät sind, gestehen wir dem Tram seine wohlverdienten drei Minuten nicht mehr zu, sondern erwarten, dass das Tram gefälligst sofort kommt.

Es ist der Verlust unserer Macht. Nichts können wir tun, während wir den Fluss dieser Welt aus der Zuschauerrolle erdulden müssen und jede Minute davon frustriert uns. Diese Haltung haben wir uns in kurzweiligen Stunden antrainiert, denn wir haben den grösster aller Lehrmeister der Ungeduld: Das Internet.

Klick. Aktion. Resultat. Keine Wartezeiten, selten muss man etwas ein weiteres Mal versuchen, die Welt richtet sich nach uns.

Jedes unserer Bedürfnisse wird augenblicklich beachtet, jede unserer Handlungen führen sofort zu sichtbaren Resultaten. Laut diversen Studien verbringen wir mehr als vier Stunden täglich im Internet, wo wir uns mit jedem Klick ein wenig mehr an unsere Macht gewöhnen – Disziplin und Hartnäckigkeit werden nicht benötigt. Diese Onlinewelt erzieht uns alle zu Pippi Langstrumpfs: Wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt – Widdewiddewitt und zwar jetzt und sofort! Nur wurden wir Pippi Langstrumpfs leider so zu Personen mit geringem Durchhaltevermögen und niedriger Frustrationstoleranz.

Denn sobald unsere Internetverbindung uns im Stich lässt, reisst uns schnell der Geduldsfaden, wir klicken wild auf den Bildschirm und reagieren auf einen Ladebildschirm wie cholerische Autofahrer auf einen kilometerlangen Stau.

Diese im Internet erlernte Haltung übertragen wir auf unser gesamtes Leben.

Sie belastet Beziehungen, verunmöglicht Karrierepläne und schadet unserer Gesundheit. Doch diese Haltung verändert auch unsere Sicht auf die Zeit: Sie wurde zu einer Ressource, die es zu nutzen gilt – wer nicht effizient und effektiv seine Zeit investiert, „verliert“ Zeit. Und wie
bei jeder Ressource scheint es nie genug zu geben für alle.

In diesem Sinne: Besten Dank für deine Zeit!

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