„Zerscht Eier lege und denn gaggere“

Nadia Tamm im Gespräch mit Charles Lewinsky

Nach diesem Motto arbeitet der Zürcher Schriftsteller Charles Lewinsky, der schon sehr viele „Eier“ gelegt hat: Sein Werk umfasst über 20 Bücher, 1000 TV-Sendungen, Theaterstücke Filmdrehbücher, Bühnenauftritte, Lieder, Comics und Hörspiele. Via Skype traf sich der erfolgreiche Autor mit QUINT zum Interview und sprach über das Schreiben, den nie aussterbenden Antisemitismus, und weshalb Berufsschüler die besseren Fragen stellen als Gymnasiasten.

Herr Lewinsky, wie erleben Sie die Corona-Krise? Sind Sie eher ein Mensch, dem die Decke auf den Kopf fällt oder der die Ruhe geniesst?

Ich bin eigentlich die völlig falsche Person, um diese Frage zu beantworten, denn ein Schriftsteller lebt eigentlich immer so, als ob er in Quarantäne wäre. Ich gebe zwar momentan keine Lesungen und Auftritte, bin aber sonst tagsüber mit dem beschäftigt, mit dem ich auch sonst beschäftigt wäre: Schreiben.

Wie sieht ein typischer Arbeitstag bei Ihnen aus?

Es ist ein sehr schweizerischer Arbeitstag. Pünktlich um neun Uhr morgens setze ich mich an den Schreibtisch, arbeite also zu richtigen Bürozeiten. Ich nehme das Schreiben als Beruf und arbeite auch so. Ich bin einfach mein eigener Chef, was sehr angenehm ist (lacht). Die grosse Schwierigkeit liegt darin, die eigene Disziplin zu halten. Es fallen mir ständig andere Sachen ein, die viel dringender wären als das Schreiben.

Welche Dinge wären denn wichtiger als das Schreiben?

Man müsste E-Mails beantworten, Fenster putzen, tausend andere Dinge – aber ich lasse mich einfach nicht ablenken.

Wie schaffen Sie es, sich bei der „Büroroutine“ zu inspirieren?

Erst einmal ist Inspiration ein völlig irreführender Begriff. Es gibt ein Zitat von Thomas Edison, der gefragt wurde, wie er es geschafft habe so viel zu erfinden. Er antwortete: „1% ist Inspiration, der Rest ist Transpiration.“ Ideen werden grauenhaft überschätzt, von ihnen hängt die Qualität eines Textes nicht ab. Das Entscheidende ist konsequent an einer Idee dranzubleiben und sie zu Ende zu denken, auch wenn es mühsam ist. Ein amerikanischer Schriftsteller sagte mal: Zum Schreiben müssen Sie sich einfach an einen Schreibtisch setzen, und wenn ihre Stirn zu bluten beginnt, sind Sie auf dem richtigen Weg. (lacht)

Ihre Arbeit in der Unterhaltungsbranche hatten Sie einst als Brotjob bezeichnet, waren aber auch in vielen anderen Kunstgattungen tätig: Für welches Genre schlägt ihr Herz am meisten?

Ich bin jetzt als alter Sack endlich an dem Ort angekommen, wo ich nur noch die Sachen schreibe, die mich persönlich interessieren. Jahrelang war das Schreiben für mich ein Beruf. Angenommen, ich wäre Maurer und man bestellte bei mir einen Hühnerstall, dann muss der so gebaut werden, dass die Hühner darin gesund bleiben und er nicht einstürzt, aber er muss mich als Maurer nicht interessieren. Ich habe jahrelang vom handwerklichen Schreiben gelebt, was auf die Dauer einen Vorteil hat: Schreiben lernt man beim Schreiben, nicht in der Theorie. Je mehr man schreibt, desto mehr Erfahrung sammelt man, desto besser weiss man, wie man Umwege vermeiden kann, bei denen man mit Sicherheit gegen die Wand laufen würde.

Als ich Ihren Roman „Melnitz“ gelesen habe, fragte ich mich, was zuerst da war: Die Idee einer Familiensaga oder die Figur Onkel Melnitz als Verkörperung des Antisemitismus?

Keines von beidem: Ich wollte ursprünglich überhaupt keine Familiensaga schreiben, sondern hatte eine Geschichte vor, die zwischen den Weltkriegen spielt. Dann habe ich festgestellt, dass man vieles ohne die Vorgeschichte nicht versteht. Aus einer logischen Notwendigkeit wurde es immer mehr – und irgendwann landete ich im Jahr 1871.

Um die zweite Frage zu beantworten: Die Figur Melnitz war nie für dieses Buch vorgesehen. Melnitz stammt aus einer Geschichte, die mir meine Grossmutter erzählt hat und hat mich – das klingt jetzt übertrieben, aber es ist wahr – schon seit 50 Jahren beschäftigt. Ich hatte immer etwas über ihn schreiben wollen, hatte aber nie die richtige Form dafür gefunden. Als ich mit diesem Buch angefangen habe, ich kann es nicht anders erklären, ist er einfach dagesessen und hat gesagt: „Ich bin jetzt hier dabei.“ Solche Dinge weiss man nicht im Voraus. Ich war auch überrascht, dass Mimi so gern Französisch redet.

In dieser Beziehung gibt es zwei Sorten Schriftsteller: Jene, die ein Buch vorausplanen können und jede Szene schon genau im Kopf haben, bevor sie sie schreiben. Ich kann das überhaupt nicht, weil mir viel zu schnell langweilig wird. Wenn ich es mir schon ausgedacht habe, warum würde ich es noch aufschreiben? Ich denke mir die Geschichte lieber beim Schreiben aus.

Liegt darin nicht eine Gefahr, sich zu verzetteln?

Natürlich, dafür gibt es ja die schöne Delete-Funktion.

In „Melnitz“ gibt es eine sehr beklemmende Szene, in der die anderen Figuren die hämischen Warnungen von Onkel Melnitz zum wachsenden Antisemitismus damit abtun, dass solche Pogrome im 20. Jahrhundert doch nicht mehr passieren könnten. Melnitz antwortet sinngemäss, dass dies jederzeit geschehen könne und die Menschen alle zwei- dreihundert Jahre wieder merken, wie viel Gefallen sie daran haben. Was löst diese Szene in Ihnen aus in Bezug auf die zunehmenden Hassverbrechen wie beispielsweise das Attentat in Halle?

Man muss da ein wenig ausholen. Es gibt ja immer zwei parallele Überlieferungen in einer Gesellschaft. Es gibt die, die an Schulen und Universitäten gelehrt wird und es gibt jene, die quasi unter dem Tisch weitergegeben wird. Diese ist letztlich meistens stärker als die offizielle Version. Unter dem Tisch ist der Antisemitismus noch genauso stark wie er immer gewesen ist. Und er wird auch immer wieder irgendwo ausbrechen, man weiss einfach nicht im Voraus, wo es sein wird. Dieses Gedankengut wurde über so viele Jahrhunderte weitergegeben, dass es nicht mehr aus den Köpfen herauszukriegen ist. Auch die Schweiz ist da nicht gefeit, kein Land ist es.

Haben Sie denn keine Hoffnung mehr, dass der Antisemitismus eingedämmt und überwunden werden kann?

Nein, das würde ja voraussetzen, dass der Mensch ein intelligentes Wesen ist, und daran habe ich meine starken Zweifel.

Wie gehen Sie mit dieser traurigen Erkenntnis um?

Es gibt einen alten jüdischen Witz, der das gut erklärt. Einer sagt: Ich bin Jude und stolz darauf. Fragt der andere: „Warum bist du stolz darauf?“ Antwortet der erste: „Wenn ich nicht stolz darauf wäre, bin ich immer noch Jude, also bin ich lieber stolz.“ Und so ist es. Ich glaube, dass der Antisemitismus nicht auszurotten ist, und es geht mir trotzdem gut, denn wenn’s mir schlecht geht, ist er deshalb nicht verschwunden.

Denken Sie denn, dass auch andere diskriminierende Systeme nie verschwinden werden?

Nein, der Mensch hat im Verlauf seiner Geschichte immer gegen Gruppen diskriminiert. Ich sehe keinen Grund, warum er plötzlich im 21. Jahrhundert damit aufhören sollte. Zwar haben einige Gruppen wie die Kirche ihren Antisemitismus stark heruntergeschraubt, dafür haben ihn andere übernommen.

Im Hinblick auf Diskriminierung ist es im Roman sehr spannend zu sehen, dass innerhalb des Judentums auch viel Ausgrenzung stattfindet. Beispielsweise sind die sogenannten „Ostjuden“ bei den „einheimischen“ Schweizer Juden nicht wirklich akzeptiert.

Es ist generell so – das hat gar nichts mit dem Judentum zu tun – dass kleine Gruppen dazu neigen, winzige Unterschiede zu vergrössern und sich untereinander zu streiten. Besonders religiöse Minderheiten haben die Tendenz, sich in Sekten aufzuspalten. Die Streitigkeiten untereinander sind meistens heftiger als der Streit nach aussen, was daran liegt, dass man die Hoffnung aufgegeben hat, nach aussen etwas zu erreichen. Beispielsweise ist all das, was man heutzutage als typisch jüdischen Humor bezeichnet, aus innerjüdischen Auseinandersetzungen entstanden.

Sie sind selber in einem jüdisch-orthodoxen Umfeld aufgewachsen, sagen aber, dass Sie sich davon entfremdet haben. Was hat konkret zu dieser Entfremdung geführt?

Ich bin erwachsen geworden. Das orthodoxe Judentum hat ja für alles eine Regel, aber es gibt für viele Vorschriften elegante Umgehungen. Beispielsweise darf man am Sabbat nichts tragen, folglich darf man auch kein Taschentuch im Sack haben. Also befestigt man das Nastuch mit einer Sicherheitsnadel an der Hosentasche und kann sagen, es gelte als Bestandteil der Kleidung. Irgendwann fragte ich mich: Was ist denn das für ein Gott, den man mit solchen „Buebetrickli“ austricksen kann? Eine wichtige Rolle hat auch gespielt, dass ich nicht in dieser selbstghettoisierenden, orthodoxen Welt geblieben bin.

War das denn ein schwieriger Prozess?

Es war nicht so schwierig, da ich viele Jahre in Deutschland am Theater gearbeitet habe, weit weg vom Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin.

Sie sagten in einem Interview, Sie würden lieber Lesungen in Berufsschulen statt Gymnasien halten, da Berufsschüler die ehrlicheren Fragen stellen, während Gymnasiasten – laut Ihrer Erfahrung – eher versuchen, den Lehrern zu imponieren.

Ja, das ist in der Tat meine Erfahrung. Neulich war ich an einer Lesung, als ein Berufsschüler mich fragte, wie viel man denn als Schriftsteller verdiene. Sowas fragt mich am Gymi niemand. Obwohl es meiner Meinung nach eine hochinteressante Frage ist.

Gymnasiasten haben nach vielen Jahren das Schulsystem durchschaut und wissen, was man machen muss, um eine anständige Note zu bekommen.

Es ist ja immer nur ein kleiner Prozentsatz, den einen an der Schule tatsächlich interessiert.

Das meiste muss man sich irgendwie in den Kopf drücken, bei der Prüfung wieder rausdrücken und dann ganz schnell wieder vergessen. Man weiss also, wie dieses System funktioniert und nutzt natürlich so eine Gelegenheit wie eine Lesung, um sich noch diese halbe Note heraufzuarbeiten. Das finde ich völlig normal.

Was ist eigentlich Ihre eigene Erinnerung an Ihre Schulzeit?

Unendliche Langeweile, besonders in der Gymizeit. Es muss aber erwähnt werden, dass ich einen genialen Lehrer hatte, der mein Leben veränderte. Ich habe während des Unterrichts immer unter der Schulbank gelesen, um mir die Zeit zu vertreiben. Damals hatte ich überhaupt keinen literarischen Geschmack und las dementsprechend Schrott. Dieser Lehrer fand, wenn der schon immer liest, soll er wenigstens anständige Bücher lesen. Er war aber gescheit genug zu wissen, dass wenn ein Lehrer dem Schüler sagt, er soll bessere Bücher lesen, das den gegenteiligen Effekt hat. Deshalb hat er mich angelogen, wofür ich ihm noch heute dankbar bin. Er erzählte mir, er sei in der Auswahlkommission der Volksbibliothek, er müsse viele Bücher lesen und entscheiden, ob man die kaufen solle. Ob ich denn nicht ab und zu eins übernehmen und ihm sagen könne, ob man es kaufen solle? Das ehrte mich natürlich sehr, und so bin ich quasi über Nacht von Karl May zu Hemingway umgestiegen. So ging mir eine neue Welt auf, was ich diesem Lehrer zu verdanken habe. Nicht dem Schulsystem, sondern einem wirklich begabten Pädagogen.

Schüler fragen sich im Deutschunterricht häufig, ob die Interpretationen der Lehrer nicht viel zuweit hergeholt seien. Sie haben in einem Interview bestätigt, dass Sie sich in Literaturseminaren über Ihre eigenen Werke häufig denken: Das ist ja spannend, aber habe ich mir nie so gedacht.

Es ist sogar noch schlimmer. Ich war einmal in Basel an einem Literaturseminar und sagte:

„Wenn ich mir die Fragen stellen würde, die ihr mir gerade stellt, hätte ich das Schreiben schon lange aufgegeben.“

Ein Germanist muss Bücher sezieren, nicht herstellen, das ist ein anderer Beruf.

Sie haben ja selber Germanistik studiert…

Germanistik war ein völlig überflüssiges Studium, dann habe ich Theaterwissenschaften studiert – noch überflüssiger. Ich hätte wohl besser Geschichte studiert.

Ist denn das Bücher interpretieren grundsätzlich überbewertet?

Ich meine, Bücher analysieren – warum nicht? Es ist immer noch besser als Makramee. (lacht). Es gibt einen sehr schönen Satz vom berühmten Kritiker Marcel Reich-Ranicki: „Schriftsteller verstehen von der Literatur nicht mehr als Vögel von der Ornithologie.“ Die Aufgabe eines Schriftstellers ist es nicht, seine Bücher zu analysieren, sondern Geschichten zu erzählen.

Was hätten Sie gerne schon als Achtzehnjähriger gewusst?

Ich hätte gerne gewusst, – was ich erst 20 Jahre später lernte – ob man sich tatsächlich eine grosse Schreibarbeit vornehmen und sie auch umsetzen kann. Vielleicht war es auch gut, so war ich ein bisschen reifer, als ich Bücher zu schreiben begann.

Was raten Sie jungen Menschen, die es auch zum Schreiben hinzieht?

Einem richtigen Schreiber können Sie eh nicht viel sagen, denn wenn er diesen Bazillus hat, kann man ihn nicht heilen (schmunzelt). Mein Rat wäre: Du kannst vermutlich nicht davon leben, nur zu schreiben, worauf du Lust hast. Aber es gibt immer Sachen, die geschrieben werden müssen, von denen man leben kann.

Wie sieht es mit aktuellen Projekten aus?

Ich habe immer ein aktuelles Projekt (lacht). Ich halte mich an die Regel, dass man zuerst Eier legen sollte, bevor man gackert. Im Herbst kommt ein neuer Roman raus, der fertig ist. Ich bin schon wieder am nächsten. Das ist dann immer sehr lustig: Wenn das Buch erscheint, habe ich es häufig schon wieder vergessen, da ich mich schon lange mit etwas anderem beschäftige.

Dann freuen wir uns auf den Herbst! Herr Lewinsky, herzlichen Dank für das Gespräch!

Info: Charles Lewinsky wurde 1946 in Zürich geboren. Nach dem Studium der Germanistik- und Theaterwissenschaften war er als Regieassistent für Fritz Kortner, als Dramaturg und Regisseur für diverse Bühnen und als Ressortleiter für „Wort-Unterhaltung“ beim Schweizer Fernsehen tätig. Seit 1980 ist er freier Autor. Sein vielseitiges Werk umfasst über 20 Bücher, 1000 TV-Episoden, Theaterstücke, Filmdrehbücher, Bühnenauftritte, Lieder, Comics und Hörspiele. Sein bisher erfolgreichster Roman „Melnitz“ erschien 2006 und begleitet eine schweizerische jüdische Familie vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1945.

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