Anna Tschannen, Coiffeuse

Ein Schiff ohne Anker

Im Gespräch mit Anna Tschannen

Anna Tschannen, eine ausgebildete Coiffeuse, schneidet seit 14 Jahren Heimatlosen die Haare. Mit ihrem “Mobilen Coiffeursalon”, ihrem Fahrrad und einem vollgepackten Rucksack geht sie regelmässig in Heime für Personen ohne Wohnsitz und gibt ihren Kunden ein Stück verlorene Hoffnung zurück. 

 

“Man sieht einen Unterschied in den Augen”, erzählt Anna Tschannen, “Plötzlich sehen sie sich anders”.

Anna ist Coiffeuse, zweifache Mutter und Tänzerin. Neben ihrer Leidenschaft für das Tanzen, hat sie eine grosse Leidenschaft dafür Menschen zu helfen. Ihre Begabung für das Haareschneiden setzt sie nicht nur im “normalen” Rahmen, im Coiffeursalon, ein. Regelmäßig packt sie ihre Utensilien in einen Rucksack, steigt auf Ihr Fahrrad und besucht Wohnheime für Heimatlose. Für einen symbolischen Betrag von 5.- können sich Heimatlose bei ihr die Haare schneiden lassen.

Nach der Coiffeurlehre hat Anna an verschiedenen Standorten gearbeitet. Unter anderem in der Galerie vom Fumare des Unternehmen Mitte. Die Idee, Heimatlosen die Haare zu schneiden, kam ihr als der damalige Leiter von Janus, der Drogenabgabestelle in Basel, dort bei Ihr auf dem Coiffeurstuhl sass. “Diese Leute, sie brauchen doch auch einen Haarschnitt?”, fragte sie ihn. So ergab sich die erste Möglichkeit im Wohnheim vorbeizugehen, um Haare zu schneiden.

14 Jahre später hat sie sich nicht demotivieren lassen. Anna arbeitet immer noch regelmäßig mit Heimatlosen. 

Unter den meisten Heimbewohnern ist Anna keine Fremde mehr. Viele haben bereits schon einmal bei ihr ihre Haare schneiden lassen und dementsprechend ein gewisses Vertrauen aufgebaut: “Normalerweise komme ich rein und frage: “Wer will Haare schneiden?”, daraufhin melden sich etwa drei bis fünf von ihnen an”. 

So einfach ist es aber nicht immer. Heimatlose, die Anna noch nicht kennen, sind eher zögerlich und nicht auf Anhieb bereit sich die Haare schneiden zu lassen. “Es ist schon so, dass Schamgefühle ein großes Thema sind, manchmal brauchen sie dann zwei, drei Anläufe bis sie sich trauen”, erzählt Anna. Sie muss oftmals hartnäckig bleiben, um diese schwierigen Fälle zu “knacken”. “Es ist aber immer schön wenn sich dieses Schamgefühl auflöst. Wenn es eine Begegnung gibt, wenn man zusammen diesen Haarschnitt erlebt. Allerdings hat man als Mensch immer gewisse Vorurteile. So auch ich. Manchmal kommen Heimatlose zu mir und sie stinken, dann ist mir die Sache nicht immer sehr angenehm… Doch diese Vorurteile verschwinden durch die Begegnung und das Erlebnis. Es gibt dann einen Moment, der mich immer wieder berührt und auch der Grund ist, warum ich nicht aufhöre”.

 

Die Haare sind für Heimatlose dabei nicht nur Teil ihres Aussehens, sondern auch ein Teil ihrer Geschichte und vor allem ihrer Identität. Sie sorgen für das Gefühl geschützt zu sein, wenn man tagtäglich der Straße und der Natur ausgesetzt ist. Einige haben deswegen Schwierigkeiten sich von ihren geliebten Haaren zu trennen. “Meine Haare sind das Einzige, was sie mir gelassen haben”, erklärte ihr ein Heimatloser. 

Andere sind froh diesen Teil ihrer Identität loszulassen:

"Schneide mir die drei dicksten Rastas ab, sie haben viel mit mir erlebt”.

Auch Anna selbst steht bei ihrer Arbeit vor Herausforderungen: “Wenn sie über Ihre eigene Situation wütend sind, ist es manchmal geladen wie der Moment weitergeht. Dann ist es unvorhersehbar wie der Haarschnitt enden wird”. Sie erzählt als Beispiel von einer einprägsamen Erfahrung: “Einer stand einmal hinter mir und sagte: “Jetzt schneide ich dir die Haare!”. 

Trotz den Herausforderungen sind die Auswirkungen ihrer Arbeit mehr als nur bewundernswert. Ein Haarschnitt ist nicht nur eine äußerliche Veränderung, es ist ein neues Stück Hoffnung. Einige sagen ihr sogar, sie fühlen sich wieder frisch genug, um sich zum Beispiel für eine neue Stelle zu bewerben. “Oftmals, wenn ich nach Hause gehe, bin ich gefüllt mit Menschen und Geschichten”, so Anna, auch sie profitiert von den Auswirkungen ihrer Arbeit. An manchen Tagen ist es allerdings nicht so, sondern eher das Gegenteil: “Es gibt Tage, an denen es mich bedrückt. Manchmal merkt man einer Person an, dass es ihr nicht gut geht und ich kann ihr nicht helfen. Ich kann ihnen nur den Haarschnitt schenken. Das Gefühl, dass es für sie keine Lösung gibt, nimmt mich schon mit.”

Doch gibt es denn wirklich keine Lösung? In der Schweiz können sich Heimatlose jederzeit helfen lassen. Keiner muss hier auf der Straße schlafen. Aber warum lassen sich diese Leute denn dann nicht helfen? 

“Es könnte jedem passieren, es braucht nicht einmal viel, dass man zu diesem Punkt kommt”, sagt Anna. Nach einem grossen Lebensbruch (Unfall, Trennung, Schulden, usw), kann es schnell gehen sich selbst zu verlieren. 

“Die Verbindung zu den Eltern beispielsweise und zur Welt muss immer wieder stabilisiert werden. Wenn man allerdings in vielen Lebensbereichen so viele abgeschnittene Seile hat, dann fühlt man sich ein bisschen wie ein Schiff ohne Anker”, erklärt sie.

“Es ist wie eine Abwärtsspirale. Irgendwann ist man in dieser Spirale gefangen und es dreht einen nur noch nach unten”, fügt sie hinzu. 

Vom Sozialamt bekommen Heimatlose, oft nach einer langen Wartezeit, einen Wohnort zur Verfügung gestellt, wenn sie das wollten. Allerdings gehen viele nicht zum Sozialamt, da sie sich dort verurteilt fühlen. Sie wollen ihr Leben lieber selber bestimmen und ihren eigenen Weg gehen. Denn viele brauchen das Gefühl, dass sie selber etwas erreichen können. Hilfe zu holen würde für sie gewissermassen ein “Aufgeben” symbolisieren.

Es ist nicht zu bestreiten, dass das Leben auf der Straße hart ist. Es ist kalt, es regnet und man ist der Natur komplett ausgesetzt. Das Schamgefühl ist so gross, dass man sich nicht einmal helfen lässt. Kleine Geschenke, wie ein Haarschnitt können eine grosse Auswirkung haben. Es ist wichtig, dass wir als Gesellschaft diese Leute nicht weiter an den Rand schieben. Ihr Leben und ihre Geschichte sind ebenso wichtig wie unsere.

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