Illustration: Angelica Bebing

Vom Unsinn des modernen Reisens

Nein, ich werde nicht über die Klimabelastung durch das Reisen sprechen! Ich möchte die Sinnhaftigkeit des heutigen Reisens aus anderer Sicht in Frage stellen.

Blicken wir hierfür zuerst auf die Art zu reisen, wie sie bei den ersten grossen Entdeckern gang und gäbe war. Kolumbus, Humboldt und Darwin. Als sie sich von ihrem Heimatland verabschiedeten, wussten sie zugleich, dass sie es für lange Zeit nicht wiedersehen würden. Das Reisen nahm Monate und Jahre in Anspruch. Doch die wenigsten kamen in den Genuss eines solchen Abenteuers. Reisen war teuer und gefährlich. Die Neugierde und der Wissensdurst aber überwog.

Als sie sich von ihrem Heimatland verabschiedeten, wussten sie zugleich, dass sie es für lange Zeit nicht wiedersehen würden.

Das Fernweh kannte der Mensch schon immer. Wie die junge Garnet im Abenteuerroman Kalifornische Sinfonie von Gwen Bristow mit dem gutaussehenden Reiseführer Oliver aus New York durch die nordamerikanischen Steppen zum Westpazifik aufbricht, so lockt seit jeher das Unbekannte und Fremde. Der Kontakt mit anderen Kulturen ist bereichernd, nicht zuletzt weil sich der Reisende auf diese Weise das kulturelle Erbe der Menschheit erschliesst.

Reisen bedeutet Weltenerschliessung und Weltoffenheit, oder um es in der Begrifflichkeit Mark Twains auszudrücken: Reisen ist fatal für Vorurteile, Bigotterie und Engstirnigkeit.

Noch die Generation unserer Grosseltern verstand unter dem Reisen etwas anderes als wir. Wenn man damals mit dem Auto oder dem Zug zum Strandurlaub an die Mittelmeerküste fuhr, so tat man dies der Erholung zuliebe. Noch immer waren grossangelegte Unternehmungen eine Rarität; erst recht das Reisen mit dem Flugzeug. Vermutlich standen zu jener Zeit auch die finanziellen Mittel dazu oft nicht zur Verfügung. Reisen erhielt automatisch den Charakter einer Ausnahme und Besonderheit. Wer sich dazu entschied, die Welt zu bereisen, überlegte sich sehr gut, welchen Ländern er einen Besuch abstatten würde. Beschaulichkeit lautete das Stichwort. Und Beschaulichkeit bedeutet letzten Endes nichts anderes, als sich Zeit zu nehmen für das Eintauchen ins Fremde. Daran ist auch die Bereitschaft zur Erweiterung des kulturellen Horizonts geknüpft. Doch auch diese Art zu reisen sollte ihr Ende nehmen und mit unserer Generation nochmal völlig neu definiert werden.

Reisen erhielt automatisch den Charakter einer Ausnahme und Besonderheit.

Man könnte meinen, dass uns dieselbe Sehnsucht nach Fremdheit, wie sie auch die ersten Entdecker spürten, in doppelter Dosis eingeimpft wurde. Es ist ja heute fast zur Seltenheit geworden, wenn man nicht bereits im frühen Alter in einem Flugzeug sass und mindestens einen anderen Kontinent bereiste. Von der Karibik über die Malediven und das japanische Inselarchipel haben Jugendliche die Welt gesehen.

Wir sind allesamt auf der Suche nach dem geeigneten Erholungsresort, dem perfekten Ort uns von Schule und Berufsalltag loszumachen und dabei im besten Fall auch noch ein wenig vom Schönen und Geheimnisvollen dieses Planeten kennenzulernen.

Es ist ja heute fast zur Seltenheit geworden, wenn man nicht bereits im frühen Alter in einem Flugzeug sass und mindestens einen anderen Kontinent bereiste.

Das wurde für uns in Europa erst möglich mit der Entwicklung zu einer Wohlstandsgesellschaft. Auf die wirtschaftliche Unabhängigkeit folgte das Erblühen vieler Reiseunternehmen, die mithilfe preiswerter Angebote den grösstmöglichen Urlaubsspass versprachen. Und dieser grösstmögliche Urlaubsspass wurde zu einer Angelegenheit der Superlative. Denn mit der plötzlichen Erweiterung des Möglichkeitenhorizonts änderte sich auch unsere Anspruchshaltung. Normgebend war nun die Kombination aus dem Maximum an Schnelligkeit, Spass, Erholung und Exotik. Mit diesem Ansinnen haben wir uns aber um das Wesentliche des Reisens gebracht. Ob man nun für drei Wochen nach Nordamerika fliegt oder zur Safaritour nach Südafrika. Die kurze Zeit erlaubt es gar nicht mehr, sich auf die andere Kultur einzulassen. Wir haben im Zuge dieser Entwicklung die altbewährten Charakteristika des Reisens hinter uns gelassen. Da- hin ist es mit der Beschaulichkeit, mit der Weltenerschliessung und Weltoffenheit! Dafür aber ist Reisen heute oberflächlich und kurzlebig.

Aber auch jener Reisende, der sich der Sache mit purer Leidenschaft hingibt, wird früher oder später enttäuscht werden. Denn die so verlockende Fremdheit wurde im Zuge der Globalisierung von diesem Planeten verbannt.

Man muss sich, um diese Tatsache bestätigt zu finden, nur einmal gründlich umsehen.
In jeder grossen Stadt trifft man auf dieselben Fastfood- und Getränkeketten. McDonalds und Starbucks haben sich rund um den Globus sowohl in Millionenmetropolen als auch in idyllischen Inselregionen angesiedelt.

Mit der Sprache verhält es sich ähnlich. Vielerorts eignen sich Einheimische ein englisches Grundvokabular an, um sich die Kommunikation mit Touristen zu erleichtern. Meistens ist es ihre einzige Einnahmequelle. Dass damit deren Traditionsbewusstsein untergraben wird, findet fast keine Beachtung.

Es ist ein Dilemma. Der Reise wird nach und nach ihr wesentliches Merkmal entzogen. Verursacher ist dabei unter anderem aber der Reisende selbst, der in seiner Bequemlichkeit und Beschränktheit eine andere Möglichkeit zu reisen kaum noch in Betracht zieht.

Damit ist nun auch die Bedeutung des Titels geklärt. Die Unsinnigkeit des modernen Reisens zeichnet sich gerade in ihrer Abkehr von den altbewährten Reisearten ab.

Die Unsinnigkeit des modernen Reisens zeichnet sich gerade in ihrer Abkehr von den altbewährten Reisearten ab.

Trotzdem gibt es heute auch Anlass zur Freude. Die gegenwärtige Situation schreibt dem gewissenhaften Bürger vor, im Sinne der Solidarität mit den Risikogruppen grosse Reisepläne auszusparen.

Das bietet doch die Möglichkeit, sich auf die Fremdheit vor der eigenen Haustüre zu besinnen!
Mit der Auskundschaft der Schweizer Juragebirges wird so mancher Unbekanntes und Nichtfürmöglichgehaltenes entdecken. Das würde zugleich zu einer Wiederbelebung der Beschaulichkeit führen. Mit der Sehnsucht nach der weiten Welt bringen wir uns um so manches unbekannte Stückchen eigenen Kulturerbes, das ebenfalls den Rang der Fremdheit einnehmen kann. Denn wer hat eigentlich gesagt, dass es gleich New York, Peru oder Oslo sein müssen?

Und ganz nebenbei würde das auch das Klima schonen!

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