Illustration: Filomena Gallay

Leben im Versteck

Nach dem Zweiten Weltkrieg lag Europa in Trümmern und war gezeichnet von Armut und Verlust. Im Gegensatz dazu erlebte die Schweiz einen wirtschaftlichen Boom, welcher ohne Arbeitskräfte aus anderen Ländern nicht möglich gewesen wäre. Viele kamen aus Südeuropa.

Italien, welches von den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs besonders betroffen war, bot der arbeitenden Bevölkerung kaum Zukunftsperspektiven. Viele kamen daher als Gastarbeiter in die Schweiz. Sie blieben über mehrere Jahre jeweils für eine Saison, daher wurden sie Saisonniere genannt. Diese arbeiteten vor allem im Gastgewerbe und in der Industrie.

Sie hatten zwar Arbeit in der Schweiz, durften jedoch ihre Familien nicht mitbringen, sondern mussten sie im Heimatland zurücklassen.

Vor allem Kinder blieben bei den Grosseltern oder bei Bekannten. Einige wurden unerlaubterweise in die Schweiz mitgenommen und durften daher in der Öffentlichkeit nicht auffallen. Wurden die Kinder entdeckt, mussten sie damit rechnen, von der Fremdenpolizei zurück in ihre Heimat verwiesen zu werden. Diese Politik lässt sich durch die Angst der Schweizer*innen vor einer “Überfremdung” erklären, da sobald eine ganze Familie in der Schweiz sesshaft geworden war, man sie nur schwierig wieder in ihre Heimat zurückschicken konnte.

Man geht davon aus, dass in dieser Zeit zwischen 10‘000 und 15‘000 Kinder versteckt und illegal in der Schweiz lebten.

Man geht davon aus, dass in dieser Zeit zwischen 10‘000 und 15‘000 Kinder versteckt und illegal in der Schweiz lebten.

Aber was bedeutete das für die Kinder der Gastarbeiter*innen?

Sie wurden in Wohnräumen versteckt. Sie durften nicht ins Freie um zu spielen, keinesfalls laut sein und vor allem nicht ernsthaft krank werden.

Das bedeutete auch, dass sie keine sozialen Kontakte bilden konnten in der „neuen Heimat“, was schwerwiegende Folgen hatte. Die Kinder sprachen tagelang nicht, da es ihnen verboten war und sie lagen aus Angst entdeckt zu werden nächtelang wach. Dies hatte in den meisten Fällen einen dramatischen Einfluss auf die Entwicklung der Kinder, sowohl psychisch, als auch sozial.

Sie entwickelten häufig Sprach- und Angststörungen, sowie posttraumatische Belastungsstörungen. Ein natürliches Selbstvertrauen war bei diesen Kindern nicht vorhanden. Sie bekamen das Gefühl, ein Nichts zu sein, da es traurigerweise das Einzige war, was sie zu dieser Zeit sein durften. Die späteren Folgen dieser Lebensweise waren Depressionen, Alkoholismus und Drogensucht.

 

Sie bekamen das Gefühl, ein Nichts zu sein, da es traurigerweise das Einzige war, was sie zu dieser Zeit sein durften.

Trotz dieses unmenschlichen Gesetzes gab es Menschen und Organisationen, die diesen Kindern halfen. Es kam durchaus vor, dass Lehrpersonen Kinder unerlaubterweise in ihre Klasse aufnahmen. Es gab auch Organisationen, die den Familien halfen in der Schweiz bleiben zu können. Eine der wichtigsten war die „Colonie Libere Italiane Svizzera“. Sie entstand bereits im Jahr 1925 in Genf auf Initiative von Menschen, welche während des Krieges vor dem italienischen Faschismus in die Schweiz flüchteten. Die Ziele der Colonie Libere Italiane waren, Familien wieder zusammenzuführen, die Abschaffung des Saisonnierstatuts und das Recht auf die Mitwirkung am politischen Leben in der Schweiz.

Die Folge von all dem war, dass viele Kinder eine sehr distanzierte Beziehung zu ihren Eltern pflegten, weil sie auf sich gestellt waren, während die Eltern arbeiteten. Einige versteckte Kinder lebten in Heimen und sahen ihre Eltern lange Zeit nicht. Dazu kam das Problem, dass sie die Eltern oft als sehr streng erlebten, da diese Angst hatten, dass die Kinder entdeckt werden. Die Kinder erhielten wenig Zuneigung und Zuwendung, was dazu führte, dass bei einigen eine grosse Ablehnung gegenüber den Eltern entstand – aber auch eine grosse Traurigkeit.

Es ist unglaublich, dass die Kinder bis ins Jahr 1990 im Untergrund leben mussten. Sie wurden von allen öffentlichen Dienstleistungen ausgeschlossen und waren nicht krankenversichert. Auch blieb den Kindern bis 1990 jegliche Schulbildung offiziell verwehrt. Erst im Jahr 1991 wurde das Recht auf Bildung von kantonalen Erziehungsdirektoren höher gewichtet, als die Aufenthaltsbewilligung. 1989 wurde die Kinderrechtskonvention der UNO verabschiedet, welche im Jahr 1997 von der Schweiz unterschrieben wurde. Die UN-Kinderrechtskonventionen enthalten 54 Rechte, darunter vier Grundrechte: das Gebot der Nicht-Diskriminierung, der Vorrang des Kindeswohls, das Recht auf eine optimale Entwicklung und das Recht auf eine eigene Meinung. Nach Inkrafttreten des Personenfreizügigkeitsgesetzes zwischen der Schweiz und der EU, wurde das Saisonnierstatut im Jahr 2002 aufgehoben.

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