“Oh Gott, wie ist mir das noch nie aufgefallen?”.

Buchrezension “Untenrum Frei” von Margarete Stokowski

“Untenrum Frei”, ein politisch-feministischer Essay, erschien 2016. Margarete Stokowski berichtet von persönlichen Erfahrungen und verbindet diese mit grossen Fragen zu unserer heutigen Gesellschaft. Wie fühlt es sich an heutzutage als Mädchen in Deutschland aufzuwachsen?

“Geht bitte auf Ilias”, meinte neulich mein Deutschlehrer. Allein das Wort “Ilias” löste bei mir ein Seufzen aus. Es war viel zu warm, ich war müde, die Uhr tickte irgendwie zu laut und das Letzte was ich jetzt noch vor mir sehen wollte, war ein langer Text. “Dort findet ihr einen Auszug aus dem Werk ‘Untenrum Frei’ von Margarete Stokowski. Lest euch den bitte durch und beantwortet die Fragen”. 

 

Ich kannte das Werk noch nicht und erwartete einen langen Text mit toten Wörtern und unverständlich langen Sätzen. Das Übliche eben. Zu meiner Überraschung fand ich  das komplette Gegenteil vor. Der Auszug handelte von einem vierjährigen Mädchen, das von ihrem Fahrrad gestürzt ist. Sie verletzt sich an der Hand, aber Schmerzen verspürt sie nicht nur dort, sondern auch “da unten”. Sie schämt sich dies ihrer Mutter zu erzählen und konnte nicht erklären, woher diese Scham kam. Sie weiss auch nicht, wie sie das “dort unten” beschreiben soll. Wie heisst das? Und warum konnte sie das ihrer Mutter nicht erzählen? „Gute Frage. Lange Antwort.“, meint Stokowski. 

 

Der Text war unglaublich gut und lustig geschrieben. Die Diskussionen, die in der Klasse danach entstanden, fand ich aber noch besser. “Wie habt ihr das “dort unten” als Kind genannt?”, lautete einer der Fragen.

 

„Pimmel“

“Pipimann”

“Pfiffli”

“Schnäbi”

“Mumu”

 

Ich glaube, in allen ist ein kleines Licht angegangen an diesem Tag. Wie unglaublich komisch ist es bitte, dass wir alle möglichen Namen lernen, aber nicht Penis und Vulva? In welcher Welt ist “Pipimann” besser und angebrachter als einfach nur “Penis”? 

 

Wie diskutierten im Unterricht noch weiter. Mein Lehrer brachte ein Bild mit. Eine typische Zeichnung eines Penis‘. „Wo befindet sich diese Zeichnung?“, fragte er in die Runde und wir alle blickten ahnungslos. Er erklärte uns, die Zeichnung sei von einem Tisch, welcher sich auf dem Pausenplatz befände. Sie hätte aber von überall sein können, dachte ich. Aha. Zweites Licht. Wie kommt es dazu, dass man Penissen überall begegnet, aber nirgends Vulven? Die Diskussion war zuerst unangenehm und etwas komisch. Aber sobald das Eis gebrochen war, fühlte es sich überraschend befreiend an. Einige Tage später kaufte ich mir eine eigene Kopie des Buches. 

 

Im Buch “Untenrum Frei”, ein politisch-feministischer Essay, vernetzt die Autorin Margarete Stokowski persönliche Erfahrungen mit grossen Fragen, Meinungen und Aussagen zu unserer heutigen Gesellschaft. Sie erzählt von einfachen Unterhaltungen mit ihrem Nachbarn über Schamhaare, schädlichen BRAVO Magazinen, ihrer Erfahrung mit einem sexuellen Übergriff und von tausend anderen Dingen, klein oder gross, die ihr Leben als Frau in Deutschland beeinflusst haben. 

Die Hauptaussage des Buches lautet:

“Wir können untenrum nicht frei sein, wenn wir obenrum nicht frei sind. Und andersrum.“

Laut Stokowski bedeute untenrum frei zu sein, im sexuellen Sinne Freiheit zu geniessen. Es bedeutet, zu wissen, was uns gefällt und was wir uns wünschen und uns dies auch zu erlauben. Mit der Freiheit obenrum meint sie Freiheit im politischen Sinne. Frei sein von Rollenbildern und Vorurteilen.

 

Sie betont vor allem die Wichtigkeit von kleinen Freiheiten für die grossen Freiheiten. Es sind die kleinen Sachen, die dann zusammen zu etwas grossem beitragen und die Wichtigkeit dieser „kleinen“ Sachen ist nicht zu unterschätzen.

 

Die Autorin erzählt im Buch mehrmals von ihrer Kindheit in Berlin. Sie war nicht von klein an dazu geneigt, offen über Probleme zu sprechen. Es gab viele Situationen in ihrer Kindheit, bei der es für sie wichtig gewesen wäre, etwas zu sagen. Es dauerte lange, bis sie den Mut und die Kraft in ihr fand, um laut zu sein über Dinge, die ihr wichtig sind. “(…) ich weiss nicht, was noch kommt und woran ich noch glauben werde, aber ganz sicher niemals ans Schweigen”

 

Im Verlaufe des Buches ist es ihr ebenso wichtig über Unangenehmes zu sprechen. Denn so sei auch dieses Buch entstanden, sagt sie. “Erst waren Dinge komisch. Unangenehm. Verletzend. Dann kam die Wut. Heftige Wut auf die Ungerechtigkeit. (…) Es geht um die kleinen, schmutzigen Dinge, über die man lieber nicht redet, weil sie peinlich werden könnten (…).” 

 

Stokowski schafft es komplexe Definitionen und Aspekte der Freiheit in einer verständlichen Weise zu vermitteln. Ihr Schreibstil ist aber provokant genug, um den Leser vieles hinterfragen zu lassen. 

Besonders eindrücklich finde ich, wie Stokowski Vorurteilen entgegentritt. Denn wenn wir einmal alle kurz ehrlich sind: Wir wissen, dass Feminist:innen oft als underfucked und aggressiv abgestempelt werden und dass man sie mit Pixiecuts und unrasierten Beinen verbindet. Stokowski weiss das und scheut sich nicht, es auszusprechen. “Der Begriff Feminismus schreckt heute immer noch Leute ab. Sie denken an hysterische Hexen, die alle Männer kastrieren wollen, oder lieber gleich töten, um dann anschließend hämisch lachend ums Lagerfeuer zu tanzen und BH für BH hineinzuwerfen (…)” Das ist klar gedacht und witzig geschrieben. Stokowski verfolgt damit aber auch eine Strategie: Denn die genussvolle Übertreibung erlöst uns aus der Schockstarre der political correctness. Macht euch mal locker, scheint uns Stokowski zuzurufen, dieses Bild von der stutenbissigen Feministin ist zwar kreuzfalsch, aber vielleicht ist es auch der Kampf um Etiketten. Denn am Ende geht es darum, wie wir handeln und wie wir miteinander umgehen.

 

Man erkennt im Buch regelmässig Sachen oder Situationen wieder und plötzlich sieht man diese Dinge anders. Ein Augenöffner für mich waren die “Frauenmagazine”. Ich erinnere mich als wir im Klassenlager in der Primarschule im Kiosk immer die neuste Ausgabe des Bravomagazins kauften und dann alle zusammen durch die Magazine blätterten. “Tipps für einen Bikini-Body” oder “Was kannst du tun, um deinem Crush aufzufallen” lauteten die Titel der Artikel. Als ob nicht alle Körper gut genug wären für einen Bikini! Und warum nochmal sollen wir mit Lipgloss die Jungs auf uns aufmerksam machen? Oh Gott, denke ich mir noch einmal. Ich wünschte, ich hätte diese Magazine als Kind nie gelesen. 

 

Margarete Stokowski schafft es viele solcher “Oh Gott” Momente auszulösen. Mit ihrer direkten Schreibweise äussert sie sich zu verschiedensten “unangenehmen” Themen, sodass man sich am Ende des Buches fragt, warum diese Themen je unangenehm waren. Der Text ist nicht nur humorvoll, sondern auch  unglaublich informativ. Ich würde es jedem empfehlen. Aber “Vorsicht: Stokowski kann Ihr Leben verändern”, wie mein Deutschlehrer uns damals warnte. 

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