Ein Schriftsteller, verschiedene Identitäten

Die Geschichte Fernando Pessoas

Wenn man einen Schriftsteller oder eine Schriftstellerin beschreibt, kommt einem normalerweise nicht sofort Attribute in den Sinn, die mit Schauspielerei zu tun haben. Meistens ist das nämlich gar nicht nötig. Doch bei Fernando Pessoa ist dies anders. Als Künstler schrieb er nicht nur seine eigene Seele in seinen Werken nieder, sondern schuf zahlreiche andere Identitäten, die ihm beim Schreiben zur Seite standen und manchmal sogar selbst die Feder in die Hand nahmen.

Fernando Pessoa gilt heute als einer der bedeutendsten Lyriker Portugals. Stark beeinflusst von der Geschichte seines Landes und seiner Heimatstadt Lissabon, schenkte er Portugal durch seine Texte einen immensen Kulturschatz, der auf der ganzen Welt bewundert wird. Pessoa war sprachlich sehr begabt, denn er schrieb sowohl auf Portugiesisch als auch auf Englisch und verfasste ein paar Gedichte sogar auf Französisch.

 

 Der im Jahre 1888 geborene Lyriker und Dichter schrieb neben Gedichten über Anliegen, die dem portugiesischen Volk nahe lagen, auch oft auf eine sehr introspektive Weise. Unruhe und Unbehagen waren für ihn stets an der Tagesordnung. Man könnte sogar sagen, Pessoa befasste sich durch seine Texte mit dem Sinn seiner eigenen Existenz und versuchte dabei, seinen Gedanken eine gewisse Ordnung zu verleihen. Er schrieb oft über seine Ängste und meditierte über sein „tieferes Ich“, welches oft mit niederschmetternder Einsamkeit kämpfte. Pessoa erlebte viele Verluste in seinem Leben, darunter sein Vater, der starb, als Pessoa noch sehr jung war.

 

In dieser schweren und unendlichen Einsamkeit zog sich Pessoa immer mehr zurück und verliess nur noch ganz selten seine Wohnung in Lissabon. Selten war er im Kontakt zu anderen Menschen. Das Schreiben half ihm, seinen Problemen und Existenzängsten zu entfliehen. Pessoa blieb jedoch nicht nur beim „einfachen“ Schreiben. Er ging noch einen Schritt weiter und kreierte etwas, was ihm half, sich besser auszudrücken: sogenannte Heteronyme. Heteronyme muss man im Gegensatz zu Pseudonymen als eigene Identitäten ansehen. Sie sind sozusagen vom Autor oder der Autorin getrennt, während Pseudonyme nur ein anderer Name für den Autor oder die Autorin sind. Heteronyme haben somit ihre eigenen Biographien, Themen, Schreibstile, Motive und philosophische Positionen. Heteronyme sind sozusagen andere Identitäten in der Welt der Lyrik. Im Ganzen zählt man 72 verschiedene Namen bei Pessoa, wobei es aber nicht bei jedem Namen sicher ist, ob es sich dabei um ein Heteronym oder einfach um ein Pseudonym handelt. 

 

Die wichtigsten Heteronyme Pessoas sind Alberto Caeiro, Ricardo Reis und Alvaro de Campos. Alle davon sind von Pessoa selbst kreiert, jedoch so einzigartig, dass man sie anhand ihrem charakteristischen Schreibstil ziemlich gut unterscheiden kann.

 

Das Interessante dabei ist, dass Pessoas Heteronyme alle ganz persönliche Geschichten aufweisen, welche auch sehr ausführlich beschrieben sind. Oft stellen sich die verschiedenen „Personen“ in ihren Texten selbst vor. Pessoa hat also neue Menschen geschaffen und damit neue Identitäten, die aber nur in der Welt der Wörter existieren.

 

Alberto Caeiro ist ein Jahr jünger als Pessoa, wurde aber auch in Lissabon geboren. Er verlor seine Eltern als kleiner Junge und lebte den Grossteil seines Lebens bei seiner Grosstante auf dem Land. Caeiro war Befürworter des empirischen Wissen und selbst ein überzeugter Atheist. Seine Gedichte waren in sehr einfacher Sprache geschrieben, da der Dichter nur die Grundschule besucht hatte. Er starb früh an Tuberkulose.

 

Ricardo Reis ist ein Jahr älter als Pessoa und wurde in Porto, einer anderen grossen Stadt Portugals, geboren. Er studierte Medizin und war ein überzeugter Anhänger der Monarchie. 1910 wanderte er nach Brasilien aus. Im Gegensatz zu Alberto Caeiro verfasste Ricardo Reis seine Texte in einer sehr klassischen und strukturierten Sprache mit einer gelehrten und intellektuellen Wortwahl.

 

Alvaro de Campos ist zwei Jahre jünger als Pessoa und wurde ebenfalls in Lissabon geboren. Er studierte Maschinen- und Schiffbau in Schottland, übte den Beruf jedoch nie aus. Campos war ein Pessimist und Nihilist, was in seinen Texten oftmals zum Ausdruck kam. Er hatte eine rebellische Haltung gegenüber der Welt und drückte diese mit einer starken Wut und Auflehnung aus, die man in seinen Worten spüren kann. Immer wieder wies dieses Heteronym Phasen der Begeisterung und Euphorie auf. Trotz des oftmals dunklen Untertons waren de Campos Texte  in Alltagssprache und einem umgangssprachlichen Ton verfasst. 

 

Pessoa arbeitete oft eng mit seinen Heteronymen zusammen. Beispielsweise schrieb einer der Heteronymen die Einleitung eines Textes, der andere korrigierte einen Ausschnitt und der dritte schrieb hier und da einen Ausschnitt. Daraus entstanden ganze Romane und auch einzelne Texte, in denen sich die einzelnen Identitäten vorstellen und über ihre Lebenserfahrungen diskutieren. Wie genau Pessoa zu seinen Heteronymen stand, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Der Lyriker hatte sein ganzes Leben lang mit Verlusten zu kämpfen. Sein Leben war ein Weg, auf dem der Tod gerne schritt, da viele Familienmitglieder und Freunde um ihn herum vor ihm von dieser Welt gingen. Vielleicht waren diese Heteronyme seine Weise, mit diesen Schicksalsschlägen umzugehen. Dadurch, dass er mit verschiedenen Identitäten schrieb, war er nicht mehr so allein und konnte auf diese Weise die Menschen bei sich behalten, die ihm am meisten am Herzen lagen. Manche meinen, er ersetzte die Verluste, die er in seinem Leben erlitt, durch diese fiktiven Personen. Pessoa wusste, dass diese Personen nicht einfach gehen konnten, sie waren in ihm und zwischen den Zeilen seiner Werke niedergeschrieben. Er hatte die Kontrolle über ihre Schicksale und musste sich erst von ihnen trennen, als er auch bereit war. Fernando Pessoa fand auf diese Weise einen Weg, gegen den Tod und seine Unwiderruflichkeit zu rebellieren. Er wurde so selbst zum Meister von Leben und Tod – auf Papier wenigstens. 

 

Auf der anderen Seite ist das Benutzen von Heteronymen natürlich auch für Pessoa aus künstlerischer Sicht ein enormer Vorteil: Er kann experimentieren, sowohl in Schreibstil als auch in Themen, die er behandelt.Da er dies nicht nur unter einem Namen macht, entstehen diese verschiedenen Persönlichkeiten, deren Identität sehr unterschiedlich sind aber schlussendlich auf einer gewissen Weise auch Pessoas Identität ausmachen Er kann so verschiedene Facetten seiner Persönlichkeit erkunden und einem Thema nicht nur aus einer Perspektive angehen und betrachten.. 

 

Was auch immer diese Persönlichkeiten für Pessoa bedeuten, es sind unter anderem sie, die ihn zu einem einzigartigen und facettenreicher Lyriker machen, der er war und auch noch heute ist. Einfacher gesagt gäbe es ohne Pessoa diese anderen Persönlichkeiten, seine Heteronyme nicht, und ohne Heteronyme gäbe es auch wohl nicht den Pessoa, der die Kultur Portugals dermassen beeinflusst hat. Obwohl seine Werke heute noch leben, war das Leben des Dichters jedoch sehr kurz. Er verstarb im Alter von 47 Jahren in Lissabon an den Folgen seines Alkoholismus. 

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