Ethischer Antinatalismus: philosophische Motive nataler Enthaltsamkeit

Krieg, Pandemie, menschengemachte Klimakatastrophe. Die Frage nach der Zukunft des Menschen auf der Erde ist aktueller denn je. Skeptische Stimmen meinen, die Menschheit sei auf bestem Wege, sich selbst auszurotten. Kann ich Kinder in eine Zukunft bringen wollen, die unabdingbar auf das Sterben hinausläuft? Dies ist eine Frage nach der eigenen Verantwortung, Gesellschaft und Ethik.

Krieg, Pandemie, menschengemachte Klimakatastrophe. Die Frage nach der Zukunft des Menschen auf der Erde ist aktueller denn je. Skeptische Stimmen meinen, die Menschheit sei auf bestem Wege, sich selbst auszurotten. Kann ich Kinder in eine Zukunft bringen wollen, die unabdingbar auf das Sterben hinausläuft? Dies ist eine Frage nach der eigenen Verantwortung, Gesellschaft und Ethik.

Noch steigt die Zahl der Menschen auf der Erde. Schätzungen zufolge soll sie aber 2090 mit 10.4 Milliarden ihren Höchsstand erreichen und danach zu sinken beginnen. Was für die Umwelt eine Chance auf Erholung ist, bedeutet für die Menschen einen befürchteten Einbruch von Wohlstand, Produktion und Konsum durch Überalterung der Gesellschaft. Die Lage ist also durchaus verzwickt. Weniger “neue” Menschen bedeuten eine eventuelle Wirtschaftskrise. Ein Zuwachs der Bevölkerung hat unmittelbare Auswirkungen auf die Klimakrise. Welchem Problem soll also nun nachgegangen werden? Einerseits ist uns, wie alle anderen Spezien, ein Interesse an Fortpflanzung inhärent und auch gesellschaftlich noch immer erwartet. Andererseits kommt der Familiengründung für den Menschen als transzendentes Wesen – das seine Vorstellung von der Gegenwart lösen und so die Zukunft antizipieren kann – neben dem biologischen auch ein ethischer Aspekt hinzu. Wir können uns ein Bild von den Konsequenzen machen, die unser Handeln in der Zukunft haben wird und sind dadurch auch für sie verantwortlich.

Diese Verantwortung ist vor allem mit vielerlei Fragen verbunden:  Passt ein Kind in meinen Lebensentwurf? Kann ich es mir überhaupt leisten, ein Kind grosszuziehen? Kann ich genug Zeit aufbringen, mich um ein Kind zu kümmern? Die Liste ist lang. Dabei scheint eine Frage, im Angesicht der oben erwähnten Zukunftsprognosen, besonders spannend: Kann ich ein Kind in diese Welt bringen wollen? Eine Frage, die letztendlich beim Individuum bleibt, zu deren Beantwortung es aber diverse gedankliche Ansätze gibt. Einer davon ist der Antinatalismus – die freiwillige Kinderlosigkeit – als Position, die gegenwärtig zunehmend an Befürwortung gewinnt. Dabei wird zwischen bevölkerungspolitischem und ethischem Antinatalismus unterschieden. Letzterer lässt sich erneut in drei philosophische Untergruppen teilen: den nihilistischen, den moraltheoretischen und den utilitaristisch motivierten Antinatalismus. 

Die bevölkerungspolitisch motivierte Kinderlosigkeit steht in engem Zusammenhang mit dem klimapolitischen Verzicht auf eigene Kinder. Hungersnöte und staatliche Überlastung durch Überbevölkerung, sowie Umweltprobleme sind dabei zentrale Faktoren. Die beschränkten Ressourcen der Erde sollen durch Verzicht auf Kinder oder Beschränkung auf kleine Familien geschont werden und so letztendlich dem Überleben der Menschheit dienen. Die Familienplanung – oft eine ausgemacht emotionale Angelegenheit – geschieht hier vergleichsweise nüchtern. 58.6 Tonnen CO2-Emissionen soll jährlich sparen, wer auf ein Kind verzichtet. Zum Vergleich: Der Verzicht auf ein  Auto spart ungefähr 2.04 und jener auf Flugreisen 1.68 Tonnen im Jahr. Die eigene Kinderlosigkeit als Beitrag zur Ressourceneinsparung und Mittel zur Verringerung der ökologischen Fussabdrucks. Es sind aber nicht nur die erschreckenden Zahlen, die Paare vermehrt zweimal über die Gründung einer Familie nachdenken lassen. Auch die Angst vor der Entwicklung der Klimakrise trägt massgeblich dazu bei, dass viele junge Menschen – vielmals trotz eigentlichen Kinderwunsch – lieber keine Kinder in eine Welt setzen wollen, von der wir nicht wissen, wie lange sie für uns noch bewohnbar ist. 

Gegner:innen erwidern dieser Rechnung, dass nicht jeder Zuwachs unbedingt schlecht sei. Sie unterscheiden Ressourcenverbrauch und produktivem Zuwachs. Ein weiterer Mensch auf der Erde verbrauche zwar Ressourcen, trage aber auch positiv zur Erhaltung der Gesellschaft beitragen. Ein nahegelegenes Beispiel sind das Entgegenwirken der Überalterung und die AHV.

Anders als die neuere politische Strömung, die vor allem nach Verantwortung den bereits existierenden Menschen fragt und deren Existenz auf dem Planeten sicherstellen will, sieht es die bereits länger Existierende Philosophie des ethischen Antinatalismus als erstrebenswert an, keine neuen Menschen hervorzubringen. Die einzelnen Subströmungen verfliesen vielfach ineinander; es lassen sich aber drei dominante Ansätze ausarbeiten.

Als philosophische Anschauung der Sinnlosigkeit alles Bestehenden sieht der Nihilismus auch das menschliche Leben an sich als nichtig an und hat deshalb kein Interesse an seiner Fortsetzung. 

“Ich betrachte das Leben des Menschen als etwas in seiner Gesamtheit Unschönes, als ein Unglück. Kein Ungeborener würde es verlangen.” - Kurnig

Als einfachen Ausweg für die Menschheit aus diesem Übel des Lebens, sehen die nihilistischen Antinatalisten die “sanfte Entvölkerung” durch das Einstellen der Kinderzeugung. Alles, was zu einer “sanften, möglichst raschen und definitiven Entvölkerung” wird befürwortet.

Ähnlich, aber weniger makaber, blicken die Vertreter:innen der antinatalistischen Moraltheorie auf das Leben. Für sie ist das Leben in sich nicht sinnlos, jedoch unumgängliche Erfahrungen von Schmerz, Leid, Trauer, Verlust und Verzweiflung nicht kompensierbar durch möglicherweise erfahrbares Glück oder Zufriedenheit. Diese unveränderliche Leidenskonstante und die damit verbundene Bürde der Existenz sollen den nachkommenden Generationen erspart werden. 

Ungewohnt mathematisch kommt der utilitaristische Ansatz. Der Utilitarismus selbst – das Streben nach dem grösstmöglichen Glück für die grösstmögliche Masse – scheint den obigen Theorien insofern zu widersprechen, dass sich das Glückspotenzial vergrössern sollte, je mehr Menschen auf der Welt sind. Doch auch in dieser Theorie wiegt Leid schwerer als Glück und muss deshalb minimiert werden. Diese Minimierung ist genau dann absolut, wenn keine Menschen mehr auf der Welt sind. Doch dann fehlt auch das Glück. Ein Mittelweg muss her. Es wird zur Pflicht, so viel Glück und so wenig Leid wie möglich zu verursachen. Zur Rechtfertigung einer Handlung müssen nun jedes Mal ihre Konsequenzen abgeschätzt und beurteilt werden. Resultiert aus meinem Handeln mehr Glück oder Leid?

Für die Familienplanung gibt es zwei Optionen. Kind zeugen oder Kind nicht zeugen. Nun muss folgende Abschätzung durchgeführt werden: Wird mein Kind zukünftig mehr oder weniger glücklich als unglücklich sein? Wenn davon ausgegangen werden kann, dass ein Kind ein überwiegend glückliches Leben führen wird, es daraufhin geboren wird und sein Leben auch tatsächlich – eine genaue Vorhersage lässt sich nie machen – geborgen und glücklich verbringen kann, wurde keine Pflicht verletzt, die Handlung kann also als “gut” bewertet werden,da sie Glück zur Welt beigetragen hat.  Wird das Kind trotz guter Aussichten nicht gezeugt, werden Pflichten weder erfüllt noch verletzt, das Glück und Leid auf der Welt wird nicht verändert. Muss aber davon ausgegangen werden, dass im Leben des Kindes das Unglück grösser sein wird, als das Glück, es aber gleichwohl geboren wird, wird die Pflicht, Leid zu vermeiden, verletzt. Die Handlung kann als “schlecht” bewertet werden. Auch hier gilt, wird das Kind nicht geboren, werden Pflichten weder erfüllt noch verletzt. Nur in einem Szenario vermehrt sich durch das in die Welt bringen einer neuen Person das Glück auf der Erde. In allen anderen Fällen sinkt das Glück oder bleibt unverändert. Nichtfortpflanzung verletzt niemals eine Pflicht und ist dadurch der sicherste Weg. Diesen grundlegenden – wenn auch gewisse Faktoren nicht bedenkenden – Überlegungen zufolge tendiert also auch der Utilitarismus zur natalen Enthaltsamkeit.

Abschliessend bleibt zu erwähnen, dass es in der Natur von philosophischen Konstrukten liegt, niemals zu Ende gedacht zu sein. Zu jeder Ausführung gibt es eine Gegenposition und es ist unmöglich, darin eindeutige Antworten zu finden. Vielmehr sind sie als Erweiterung und Anstoss der eigenen Überlegungen zu sehen. So sind auch die hier aufgeführten Ideen theoretische Ausführungen, deren konsequente Praxis in der Realität oft an ihre Grenzen stossen. Realistischer scheinen die gesellschaftlichen und klimapolitischen Begriffe, die einerseits rechnerisch erfassbar, dadurch aber auch deutlich weniger eindeutig sind. Der Erde als Himmelskörper mag es egal sein, wie hoch die Bevölkerungszahlen und Meeresspiegel steigen, uns nicht. 

Überhaupt ist die Freiheit, solche Gedanken und Abwägungen in die eigene Entscheidung für oder gegen das Kinderkriegen mit einzubeziehen – obschon sie eigentlich selbstverständlich sein sollte –  aber ein rares Privileg. Aufgabe der Gesellschaft muss die Schaffung einer Welt sein, in der die klima- und sozialpolitischen, sowie die rechtlichen Grundlagen zur positiven Beantwortung der Frage “Kann ich Kinder wollen?” gegeben sind und in letzter Instanz einzig bei der gebärfähigen Person liegt.

Quellen:

  1. Seth Wynes, Kimberly A. Nicholas, 2017: Environ. Res. Lett. 12: https://iopscience.iop.org/article/10.1088/1748-9326/aa7541 (letzter Zugriff: 5.3.23)
  2. Kurnig: Der Neo-Nihilismus. 2. vermehrte Auflage. Max Sängewald, 1903, S. 51.

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